Im politischen Diskurs über Flüchtende geht es nicht um das Leid dieser Menschen, sondern darum, ob die Bundesregierung die Seenotretter unterstützen darf. Der Comickünstler Adrian Pourviseh war bei einem Rettungseinsatz dabei und hat eine Comicreportage darüber geschrieben – „Das Schimmern der See“.
Adrian Pourviseh dokumentiert, was im Mittelmeer passiert. Und er macht diese Recherche sichtbar. Man sieht ihn immer wieder, wie er die Ereignisse auf dem Schiff fotografiert und mit der Crew spricht. Diese Fotos und Interviews sind die Grundlage für seinen Comic.
Die Qualität dieser Comicreportage liegt auch darin, dass Adrian Pourviseh das unfassbare und existentielle Leid unaufgeregt zeichnet. Es sind einfache Bleistiftzeichnungen, die mitunter wie Skizzen wirken und die Adrian Pourviseh mit unterschiedlichen Farben unterlegt: beige und blau etwa, wenn er auf der Brücke mit dem Kapitän darüber spricht, wie die Seenotretter der europäischen Mittelmeerstaaten einfach nicht reagieren, wenn ein Flüchtlingsboot in Seenot gerät, obwohl eine internationale Konvention jedes Schiff zur Hilfe verpflichtet. Tiefschwarz und von roten Lichtern durchbrochen zeichnet er dagegen die Nacht, als es zu einer dramatischen Rettungsaktion kommt, bei der 400 Menschen um ihr Leben kämpfen.
Der Comic nähert sich dem existentiellen Leid der Flüchtlinge in kleinen Schritten und macht es so nachvollziehbarer. Zum Beispiel, indem er zunächst davon erzählt, wie die Einsätze die Retter verändern. Da ist etwa Patrick, der lange dabei ist und einige Menschen sterben sah. Die Erfahrungen auf dem Mittelmeer haben sein Herz so hart gemacht, dass er sich nicht mehr verlieben kann, erzählt Pourviseh.
Dann kommt der erste Einsatz: Flüchtende werden von einem kleinen Schiff gerettet, auf dem es gebrannt hat. Haut löst sich in Fetzen von deren Fleisch. Eine Ärztin an Bord schneidet einem Kind die Hautfetzen von den verbrannten Armen und Beinen. „Schau mir in die Augen, welche Augenfarbe habe ich?“ – sagt die Ärztin, um vom Schmerz abzulenken. Die Mutter, die selbst gerade gerettet wurde, hält dem Kind die Hand. Den Schmerz des Kindes zeichnet Adrian Pourviseh vor allem gespiegelt in den Gesichtern der Mutter und Ärztin. Das ist etwas, was viele nachvollziehen können, die nicht so etwas erlebt haben – den Schmerz des eigenen Kindes aushalten.
Zu dramatischen Szenen kommt es, als ein zweistöckiges Schiff mit rund 400 Menschen an Bord Leck geschlagen hat. Als die Seenotretter kommen, springen Flüchtlinge ins Wasser und schwimmen ihnen entgegen. Es gibt ein Protokoll der Seenotretter, das vorsieht, dass erst alle Menschen mit Rettungswesten versorgt sein müssen, bevor einzelne Menschen aus dem Wasser gerettet werden dürfen. Das klingt unmenschlich – kann aber noch größere Katastrophen verhindern. Denn wenn viele Menschen zu den Rettern ins Wasser springen, weil sie sehen, dass Menschen im Wasser gerettet werden, kann das Boot schnell Schlagseite bekommen und kentern – und dann sind so viele Menschen ohne Rettungsweste im Wasser, dass nicht alle gerettet werden können. Es ist eine nervenzerreißende Aufgabe, Menschen fast ertrinken zu lassen, damit möglichst viele gerettet werden können.
Das zeigt Adrian Pourviseh. Und er zeigt, dass die Retter genauso involviert sind, wie die, die sie retten – und eben nicht die starken weißen Menschen, die Schwarze retten. Zugleich macht er deutlich, dass es durchaus Unterschiede gibt, etwa, wenn Hilfskräfte nach den Einsätzen psychologisch betreut werden, während für die Geretteten, die viel Schlimmeres erlebt haben, keine psychologische Hilfe vorgesehen ist.
Der Comic „Das Schimmern der See“ zeigt die Konsequenzen der Politik der Europäischen Union. Zum Beispiel die Zusammenarbeit mit Libyen. Das Land bekommt Geld von der EU, damit möglichst wenige Menschen übers Mittelmeer kommen. Adrian Pourviseh erzählt, wie immer wieder lybische Schiffe Flüchtlinge aus internationalen Gewässern zurück an die afrikanische Küste bringen. Das sind illegale Pushbacks. Pourviseh zeigt ebenfalls, wie die Besatzung der „Sea-Watch 3“ von einem lybischen Schiff bedroht wird, als diese Menschen in Seenot retten will. Nur wenn sich eine Katastrophe anbahnt, wie bei dem Leck geschlagenen Schiff mit den 400 Menschen an Bord, drehen die lybischen Schiffe ab.
Der Comic zeichnet außerdem anhand der Seegrenzen nach, welche Staaten eigentlich Seenotretter schicken müssten. Welche Schiffe weiterfahren, obwohl sie nach internationalem Seerecht helfen müssten. Für Adrian Pourviseh ist das, was im Mittelmeer passiert, nicht eine Flüchtlingskrise, sondern eine Krise der Solidarität, wie er im Nachwort schreibt, denn gerade Deutschland hat eine historische Verantwortung gegenüber Flüchtenden. Wie menschlich eine Gemeinschaft ist, zeigt sich daran, wie diese Gemeinschaft mit denen umgeht, die nicht dazugehören. Das macht Adrian Pourviseh mit seinem Comic „Das Schimmern der See“ eindrücklich deutlich.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 02.10.2023 auf: rbbKultur
Adrian Pourviseh: Das Schimmern der See • Avant-Verlag, Berlin 2023 • 224 Seiten • Softcover • 26,00 Euro
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.