Keine Prinzessin in Nöten, kein Drachentöter, keine Belohnung

Klingt doch verheißungsvoll: Arzhur, ein ehemaliger Ritter, der sich nun als Söldner verdingt und dessen Ehre genauso in der Gosse gelandet ist wie er selbst, nimmt einen vermeintlich lohnenswerten Auftrag an. Gemeinsam mit seinem Knappen Youenn soll er eine Prinzessin befreien, die auf einer finsteren Burg gefangen gehalten wird. So sagen es zumindest die drei zugegebenermaßen nicht unbedingt seriös wirkenden alten Frauen, die Arzhur als Belohnung neben Geld u. a. die Wiederherstellung seiner Ehre versprechen. Und tatsächlich schneidet das Schwert, das Arzhur von den drei Alten bekommen hat, wie Butter durch die Monsterhorden. Die Prinzessin Islen ist dann auch schnell befreit. Allerdings hat die Sache einen Haken: Islen wollte nicht befreit werden, weil sie gar nicht gefangen war, sondern freiwillig auf der Burg lebte.

Nachdem die Story des Fantasy-Zweiteilers „Tenebrae“ recht schnörkellos bis zum Auftritt der Prinzessin führt, verändern sich die Vorzeichen schnell: Arzhur merkt, dass er getäuscht wurde und verjagt die drei vermeintlichen Hexen (es sind immer drei, ob bei Macbeth oder Sandman), die er sich damit natürlich zum Feind macht. Als noch ein Stück abenteuerlicher entpuppt sich Islens Familiengeschichte: die erst traumhaft, dann tragisch verlaufende Beziehung ihrer Eltern, die Herkunft ihrer Mutter verbunden mit den außergewöhnlichen Fähigkeiten der einstigen Königin, die zugleich der Grund für Islens freiwilliges Exil sind. Alles eskaliert, als Arzhur die Prinzessin zurück zu ihrem Vater, dem König, begleitet, dem inzwischen eine neue, intrigante Gattin (mit „frischem“ Nachwuchs) zur Seite steht.

Zeichner Vincent Mallié ist inzwischen ein alter Fantasy-Hase und durch seine Zusammenarbeit mit Régis Loisel bekannt. Er gestaltete zwei Alben von dessen Klassiker „Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit“ und die sechsteilige, von Loisel geschriebene Serie „Der große Tote“, die gerade bei Egmont neu aufgelegt wurde. Auch „Tenebrae“ (Latein für Dunkelheit) kommt als märchenhafte Erzählung daher, verbunden mit klassischen mittelalterlichen Mythen, mit denen aber bald gründlich aufgeräumt wird: keine Jungfrau in Nöten, kein ritterlicher Drachentöter, keine fürstliche Belohnung und damit vorerst kein Happy End. Nur die Ex-Königin erfüllt ihre Rolle, wahlweise als eine Art böse Schwiegermutter/Hexe/Drahtzieherin mehr als perfekt. „Tenebrae“ ist die letzte Arbeit des Autors und Koloristen Hubert (Boulard), der leider 2020 starb und von dem bei Reprodukt diverse Bände vorliegen („Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An“, „Petit“, „Schönheit“). Der Abschlussband erscheint dieser Tage bei Dupuis und ist bei Splitter für den April nächsten Jahres geplant.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.

Vincent Mallié (Zeichner), Hubert (Autor): „Tenebrae. Erstes Buch.“ Aus dem Französischen von Martin Surmann. Splitter Verlag, Bielefeld 2022. 80 Seiten. 18 Euro