„Das Insektensterben ist kein dystopisches Szenario der Zukunft, sondern findet bereits statt“

So könnt es sein: Insekten und insbesondere Bienen bestäuben duftende Blütenmeere, deren Früchte wir ernten. Stattdessen verdrängen heute Kiesflächen die Blumengärten und die Landwirtschaft ist geprägt durch Monokulturen. Pestizide und der Klimawandel befördern massiv das Insektensterben – mit katastrophalen Folgen für das weltweite Ökosystem. Honig ist nur eines von zahlreichen Nahrungsmitteln, die uns dann nicht mehr zur Verfügung stehen werden.

Die junge deutsche Zeichnerin Hanna Harms visualisiert die vielfältigen Aspekte der Situation in poetischen Bildern schonungslos ehrlich. In ihrem Debüt „Milch ohne Honig” zeigt die die Hamburger Künstlerin die Zusammenhänge zwischen Landwirtschaft in Zeiten der Massenproduktion, der globalisierten Wirtschaft, die nicht nur Waren, sondern auch Schädlinge und Krankheiten in alle Winkel der Erde verteilt, Umweltzerstörung, des Rückgang der Biodiversität und des Schwindens der Lebensqualität für den Menschen selbst. Darüber spricht Harms im folgenden Presse-Interview.

Liebe Hanna, schön, dass du dir die Zeit nimmst, um mit uns über dein Buchprojekt „Milch ohne Honig” zu sprechen. Magst du uns eingangs ein bisschen über dich und deinen Werdegang erzählen? Von deinem Zeichenstil her scheinst du eher von der klassischen Illustration zu kommen und trotzdem spielt der Comic für dich eine große Rolle. Wie bist du zum ersten Mal mit dem Medium in Berührung gekommen und was hat dich als Künstlerin am Comic interessiert?

Sehr gerne! Derzeit studiere ich Illustration im Master an der HAW Hamburg. Davor habe ich an der Münster School of Design mit einem Semester an der Bezalel Academy of Arts and Design Jerusalem studiert. In Jerusalem habe ich dann bei Rutu Modan meinen ersten Comic gezeichnet und hatte großen Spaß daran. Ich habe Comics aber schon seit meiner Kindheit gelesen und bin vor allem mit frankobelgischen Geschichten aufgewachsen. Das klingt vielleicht banal, aber mich reizt an Comics besonders, Text und Bild zu einer fortlaufenden, sich gegenseitig ergänzenden Erzählung zu verbinden. Es gefällt mir, die Möglichkeit sowohl zur Darstellung komplexer Vorgänge und Zusammenhänge als auch von Atmosphäre und Poesie zu haben. Und dass ich währenddessen, zwischen der anfänglichen Recherche und den letzten Fusseln, viele so unterschiedliche Dinge tun kann.

Dein Zeichen- und Erzählstil ist sehr lyrisch, assoziativ und stimmungsgetragen. Mit welchen Materialien arbeitest du am liebsten? Und wie näherst du dich als Künstlerin deinen Themen?

Schon während der Recherche sammle ich Gedanken über mögliche Motive und Gefühle, von denen ich erzählen möchte – auch wenn zu diesem Zeitpunkt vieles nur in meinem Kopf und noch nicht auf dem Papier stattfindet. Um das krabbelnde Durcheinander zu abstrahieren, habe ich für „Milch ohne Honig” vor allem auf Assoziationen, Metaphern und eine eingeschränkte Farbpalette zurückgegriffen. Leuchtende Farben und Kontraste, die den Inhalt widerspiegeln. Am liebsten arbeite ich zumindest teilweise analog, weil mir dabei gestalterische Entscheidungen oft leichter fallen. Collage, Bleistift, Buntstift, Gouache… Die Technik entsteht dann meist aus der Notwendigkeit, bestimmte Elemente und Stimmungen darzustellen. Bleistift für feine Linien und dunkle Flächen. Gelbgrüne Gouacheflächen für Bienen, Pflanzen und Insektizide. Und lachsfarbene Wachspastellkreide für etwas Hoffnung.

Bild aus „Milch ohne Honig“ (Carlsen)

Dein erstes langes Projekt ist nun „Milch ohne Honig”, eine sehr eigenwillige Mischung aus Essay, Poesie und Sachbuch zum Thema Bienensterben und ökologische Nachhaltigkeit. Wie kamst du auf dein Thema und warum wolltest du diese Geschichte erzählen?

„Milch ohne Honig” hat 2019 als meine Abschlussarbeit begonnen. Vor einigen Jahren habe ich etwas darüber gelesen, wie eng die Kulturgeschichte der Menschheit mit der Geschichte der Bienen verwoben ist. Während weltweit die Nachrichten über das Insektensterben immer mehr wurden, ging mir dieses Paradox einer beinahe göttlichen Erhöhung der Bienen und bei gleichzeitiger rücksichtsloser Zerstörung ihres Lebensraumes durch die Menschen nicht mehr aus dem Kopf. Für die Veröffentlichung habe ich das Buch dann noch etwas erweitert.

Bei einem Sachcomic zum Thema Bienensterben werden viele Leser*innen sicherlich eine klare, dokumentarische Bildersprache erwarten. Und du hältst dich in „Milch ohne Honig” durchaus auch an bestimmte Genrekonventionen, aber eben nicht ganz: Du führst sehr atmosphärisch und poetisch in deinen Gegenstand ein, auf der Bildebene suchst du eher nach assoziativen Mustern und Abstraktionen statt nach üblichen Bebilderungen von Fakten. Könntest du uns ein bisschen über deinen Zugang zu dem Thema erzählen? Wie hast du zu deiner eigenen Comicsprache gefunden?

Es war mir wichtig, genau diese Verbindung zwischen Poesie und Wissenschaft darzustellen, ohne dabei auf Klischees zurückzugreifen. Der Fokus vieler Projekte über Bienen bedient die klassische Bienenästhetik mit lieblichen Sechsecken und schwarzen Kulleraugen. Oder aber die Werke sind sehr informativ und wissenschaftlich geprägt, dann aber überwältigend umfangreich. Zwischen diesen beiden Extremen möchte ich einen Raum zum Nachdenken schaffen sowie gleichzeitig über die Hintergründe für notwendige Veränderung informieren. Die Bilder zeigen, was der Text nicht sagen kann und andersherum. Dabei liegt der Fokus auf den Insekten. Die Menschen sind nur durch ihr Handeln und dessen Auswirkungen sichtbar. Dieser Ansatz hat mir bei der Entwicklung der Bilder sehr geholfen. Und dass ich beispielsweise bewusst auf Sprechblasen verzichte, ist weniger ein beabsichtigter Bruch mit der konventionellen Comicsprache als die für mich logische Schlussfolgerung eines erzählenden Textes ohne Charaktere.

Könntest du uns ein bisschen über deine Recherche erzählen? Welche Quellen hast du zu Rate gezogen? Gibt es unterschiedliche, sich widersprechende Standpunkte in der Forschung, oder sind sich die Forscher*innen einig? Wie global vernetzt ist die Forschung zu dem Thema Artensterben der Bestäuber und die Auswirkungen auf die Umwelt?

Da ich mich erst einmal in das Thema einarbeiten musste, habe ich von wissenschaftlichen Studien über populärwissenschaftliche Bücher und Dokumentationen bis hin zu Publikationen von Umweltschutzorganisationen so viele unterschiedliche Quellen wie möglich zu Rate gezogen und Fakten miteinander abgeglichen. Aber wie bei den meisten Rechercheprozessen wird mit der Zeit immer deutlicher, wie riesig das Thema und die Zusammenhänge doch eigentlich sind. Schwergefallen ist mir anschließend vor allem eine inhaltliche Eingrenzung der Informationen – schließlich ist die Biene das am besten erforschte Insekt. Trotz noch so gründlicher Recherche freut es mich sehr, dass der Insektenforscher und Bienenexperte Dr. Jürgen Tautz sich dazu bereiterklärt hat, sich in das Projekt einzulesen und außerdem ein Nachwort zu verfassen.

Bild aus „Milch ohne Honig“ (Carlsen)

Weltweit kommen wissenschaftliche Studien zu dem gleichen Schluss, dass vor allem Neonicotinoide für einen drastischen Rückgang der Artenvielfalt verantwortlich sind. Aber nur wenige dieser Erkenntnisse verlassen die Wissensblase der Forschung. Agrarunternehmen üben Druck auf Politik und Wissenschaft aus. Durch Finanzierung von Studien über andere Faktoren forcieren sie eine Verschiebung der gesamten wissenschaftlichen Literatur.

Du zeichnest ein sehr dunkles Bild unserer Zukunft, im Falle des Aussterbens der wichtigsten bestäubenden Insektenarten – eine Kaskade von Konflikten und Katastrophen. Hast du das Gefühl, dass das Problem gesellschaftlich und politisch ernst genommen wird? Gibt es Entwicklungen und Überlegungen, die dich optimistisch in die Zukunft blicken lassen?

Das Furchtbare ist, dass das Insektensterben kein dystopisches Szenario der Zukunft ist, sondern bereits stattfindet – seit den 1990er Jahren ist die Gesamtbiomasse der Insekten um 75 Prozent zurückgegangen. Mir war es wichtig zu zeigen, dass diese Zukunft gar nicht so weit entfernt ist, wie sie scheint. Und weshalb es unerlässlich ist, dass sich die Art und Weise, wie wir Menschen Landwirtschaft betreiben und mit den Ökosystemen der Erde umgehen, ändert. Es gibt viele sehr beeindruckende Personen, die in Umweltschutzorganisationen und Wissenschaft gegen das Insektensterben ankämpfen. Und auch in Gesellschaft und Politik scheint das Problem zunehmend anzukommen. Doch die Agrochemieindustrie spielt auf Zeit, die den Insekten nicht bleibt. Ein wichtiger Schritt, der vieles bewirken würde, wäre, Verantwortliche für Ökozid strafrechtlich verfolgen zu können.

„Milch ohne Honig” wurde 2020 bereits mit dem neuen GINCO-Award prämiert, als bester „Non Fiction Comic“. Der GINCO-Award wurde 2019 als Preis für die deutschsprachige Indie-Szene ins Leben gerufen. Was bedeutete die Auszeichnung für dich und wie nimmst du als Newcomerin die Vernetzung und die Möglichkeiten innerhalb der deutschsprachigen Indie-Szene wahr? Und wie bist Du über diesen Indie-Bezug zu Carlsen gekommen?

Ich habe mich riesig gefreut, dass „Milch ohne Honig” mit dem GINCO-Award ausgezeichnet wurde, zumal zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststand, dass der Comic bei Carlsen erscheinen wird. Comics sind ein vergleichsweise leicht zugängliches visuelles Medium. So gibt vor allem der Independent-Bereich einer Vielzahl von Künstler*innen, häufig aus marginalisierten Gruppen, eine Möglichkeit, Geschichten aus ihren Perspektiven zu erzählen. Und kleinere Institutionen wie der GINCO-Award oder auch das Comicfestival Hamburg bieten diesen Stimmen eine Plattform. Sie sind eine wichtige Erweiterung etablierter Strukturen der deutschsprachigen Comiclandschaft. Ich habe den Eindruck, dass da gerade sehr viel passiert und auch größere Verlage wie Carlsen mutiger geworden sind, unterschiedliche Themen und Perspektiven zu erzählen.

Hanna Harms: „Milch ohne Honig“. Carlsen, Hamburg 2022. 112 Seiten. 20 Euro