Postmodernes Grauen

Irgendwie hat sie etwas Anziehendes, die düstere, leerstehende Wohnung in dem nicht minder düsteren Mietshaus. Zumindest für Comiczeichner Charles. Ohne lange zu überlegen mietet er sich dort ein, trotz der seltsamen Concierge, die ihm die Wohnung nicht gerade schmackhaft macht – zumal sich der Vormieter darin erhängte. Doch Charles lässt sich nicht abschrecken und hofft durch die im Haus und in den Räumen herrschende morbide Stimmung auf Inspiration. Ein Kalkül, das nicht aufgeht. Bald plagt ihn eine Schreib- und Zeichenblockade, sein Verleger dreht den Geldhahn zu. Doch auch seine Freundin Alba vermag ihn nicht umzustimmen, die inzwischen übel riechende und Kakerlaken verseuchte Wohnung zu verlassen. Dann entdeckt Charles das verborgene Tagebuch seines unglücklichen Vorgängers und muss erkennen, dass mit dem Haus und seinen Mietern irgendetwas nicht stimmen kann.

Das alles ist nur der Auftakt zu einem Albtraum, nein, zu mehreren Alpträumen – nicht nur für den Protagonisten, sondern auch für den Leser. Denn jedes der drei in dieser Gesamtausgabe enthaltenen Alben schlägt eine andere Richtung ein, präsentiert überraschende Wendungen, blutige Scharaden und aberwitzige Motive. Stets hinterfragt man, was real ist und was nicht. Was ist – buchstäblich – Theater, wo wird Charles, seiner Clique um Alba und uns Lesern etwas vorgegaukelt und wo nicht? Die nicht immer rationalen Entscheidungen und Handlungen von Charles passen in dieses um Diffusion bemühte Schema, wobei Autor und Zeichner Daniel Hulet (1945–2011) in jedem der drei Teile visuell immer wieder furios abdriftet und damit seine Zeichenkunst, wie auch seine eigenwillige Lesart der Phantastik unter Beweis stellt. Wir tauchen ein in Charles‘ neuen SF-/Horror-Comic, durchschreiten einen apokalyptischen Albtraum, von dem Charles‘ Freunde heimgesucht werden oder landen im letzten Kapitel in einer durch und durch surrealen Waterloo-Episode.

Es war eine der ungewöhnlichsten Signierstunden auf dem Comic-Salon in Erlangen. 2004 dürfte es gewesen sein, als Daniel Hulet dort zu Gast war und seine Alben am Stand von Ehapa signierte. Ganz in Schwarz gekleidet zeichnete er auf die schwarze Umschlagseite Monster. Mit einem schwarzen Stift! Spätestens da war offensichtlich: Das Morbide, Abseitige ist ganz sein Ding. Dabei fing Hulet zunächst klassisch an: mit „Pharaon“, einer typischen frankobelgischen Abenteuerserie, die auch in „Zack“ erschien, geschrieben von André-Paul Duchâteau („Rick Master“, „Bruce J. Hawker“), gefolgt von „Der Weg zum Ruhm“, einer Reihe, die er gemeinsam mit Jan Bucquoy für das Historien-Comic-Magazin Vécu entwickelte. Mit „L’état Morbide“, bei uns zwischen 1988 und 1993 erstmals erschienen, tauchte er schließlich vollends in das Phantastische ein. Es folgen die Dreiteiler „Immondys“ – noch wesentlich abstrakter und sperriger, nicht nur was das quadratische Format betrifft – und danach „Extra Muros“, wieder etwas kommerzieller und zugänglicher (auch damals bei Ehapa erschienen).

Gegenwärtig erfahren die Werke des mit 66 Jahren zu früh verstorbenen Hulet bei uns eine Renaissance. Neben dieser Gesamtausgabe erscheint im All Verlag „Pharaon“ in hochwertigen Einzelalben und Finix brachte jüngst „Der Weg zum Ruhm“ in einer ebenfalls ansprechenden Gesamtausgabe heraus. Daniel Hulets Zeichenstil erinnert an den von Hermann, als dieser noch nicht direkt kolorierte und mit dem Rapidographen arbeitete, ein nervöser, dünner und wiedererkennbarer Strich, der gerne Albträume formt. Die Panels sind schief und nie starr angeordnet, die Zwischenräume durchgehend in schwarz gehalten. „L’état Morbide“ bleibt eine skurrile und verstörende Achterbahnfahrt, in der Rätsel und Unergründliches den Reiz ausmachen und nicht deren Auflösung. David Lynch hätte seine Freude daran. Der ausführliche historische Anhang von Paul Herman schildert den Werdegang Hulets, erläutert seine Werke und setzt sie in den Kontext der belgischen Phantastik.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.

Daniel Hulet: „L’état Morbide“. Aus dem Französischen von Klaus Jöken und Tanja Krämling. Splitter Verlag, Bielefeld 2022. 160 Seiten. 39,80 Euro