Generationenkonflikt in der Postapokalypse

In der SF-Serie „Der Turm“ richtet die Jugend unangenehme Fragen an die Älteren: Warum in der Postapokalypse eigentlich Kinder kriegen, wenn die Ressourcen aufgebraucht sind und die Zukunft aussichtslos ist?

Brüssel im Jahr 2072. Die Welt ist wieder einmal hinüber, zumindest für die Menschen. Ein Bakterium, das bei Kontakt sofort tötet, hat die Bevölkerung zu großen Teilen ausgelöscht. Eines der letzten Refugien menschlichen Lebens ist ein riesiger spiralförmiger Turm mit etwa 90 Etagen, einst als Wohnanlage der Zukunft erdacht, der vor 30 Jahren offenbar kurz vor der Katastrophe fertiggestellt wurde. Als Lebensraum von nun über 2700 Menschen bildet er eine autarke, sich selbst versorgende vertikale Stadt, hermetisch abgeschlossen von der Außenwelt. Und zu Teilen auch schon marode und überbevölkert. Als „Hausmeister“ fungiert eine allgegenwärtige KI namens Newton, die sich als Hologramm auch in menschlicher Gestalt zeigt.

Mit der Zeit haben sich im Turm zwei Fraktionen gebildet: jene, die die heile Außenwelt noch aus der Zeit vor der Katastrophe kennen, also die Älteren, und die, die im Turm geboren und aufgewachsen sind, also alle bis 30. Die nennen sich Intras und leben aus Überzeugung getrennt von den anderen. Wir lernen nach und nach verschiedene Bewohner*innen des Turms kennen: Ingrid, die sich in einr leitenden Position befindet, ihren Sohn Aatami, der gerade seine Prüfung als Jäger bestanden hat und nun im Raumanzug in der Außenwelt Tiere jagen darf. Dann ist da noch Angela, eine Intra, die mit Aatami zusammen ist und ihn für die Intras gewinnen will. Fabienne ist die älteste Bewohnerin des Turms, eine Art graue Eminenz, die immer noch die Strippen zieht.

Bild aus „Der Turm“ (Splitter Verlag)

Ehe der Plot Fahrt aufnimmt, wird die allgegenwärtige Gefahr durch das Bakterium drastisch veranschaulicht, und wir begleiten Aatami in einer beeindruckenden wortlosen Eingangssequenz bei der Jagd mitten im überwucherten Brüssel (wo genau ist exakt zu verorten, da man in einem Panel das Blake-und-Mortimer-Wandgemälde erkennen kann), das sich die Natur langsam wieder zurückholt. Dann treffen wir erstmals auf Newton, die KI, die den Turm verwaltet und zugleich als stest präsenter Ansprechpartner für die Bewohner*innen fungiert. Es dauert also eine Weile, bis die Personen vertraut sind und man zum Kern der Story gelangt: den schwelenden Generationenkonflikt, im Turm auf engstem Raum beschränkt, zwischen den etablierten Älteren und den desillusionierten Intras.

Denn die Intras um Angela fühlen sich benachteiligt („Ihr habt uns geboren und dazu verdammt, eingesperrt zu leben.“) und sind durchdrungen von einer durchaus realistischen „No Future“-Attitüde. Und just am 30. Jahrestag ist die Situation besonders aufgeladen und droht zu eskalieren – wie es hier weitergeht, wird der Folgeband zeigen, der im Februar 2024 erscheinen wird. Verantwortlich für die Story ist Jan Kounen, den man als Regisseur des „Blueberry“-Kinofilms kennt und der hier sein erstes Comic-Skript abliefert, gemeinsam mit Omar Ladgham, der auch für das Fernsehen schreibt und dort bereits mit Kounen zusammenarbeitete. Auch der Zeichner Mr. Fab, der das Geschehen in realistische Bilder mit markanten Gesichtern umsetzt und eigentlich Fabien Esnard-Lascombe heißt, hat eine interessante Vita aufzuweisen, war er doch schon für Jean-Paul Gaultier tätig. „Der Turm“ ist seine erste Veröffentlichung in Deutschland.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Omar Ladgham, Jan Kounen (Autoren), Mr. Fab (Zeichner): Der Turm. Band 1 • Aus dem Französischen von Tanja Krämling • Splitter Verlag, Bielefeld 2022 • 64 Seiten • Hardcover • 16,00 Euro

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.