Dezember 1941: Harvey Meulen und Ross Manson sind zwei aufstrebende Komponisten, die ein heißes Eisen im Feuer haben. Ihre Musikkomödie „Heads or Tales“, an der besonders Harvey Tag und Nacht arbeitet, könnte ein großer Erfolg werden. Doch dann kommen Pearl Harbor und der Krieg. Harvey meldet sich freiwillig und wird Co-Pilot eines Bombers. Drei Jahre später rettet Harvey bei einer verhängnisvollen Bruchlandung bei Monte Cassino seinem Captain das Leben, trägt dabei aber massive Verbrennung davon, die die Hälfte seines Gesicht entstellen. Als traumatisierter Kriegsversehrter trägt er fortan eine halbseitige Maske. Seine einzige Bezugsperson wird Jason, sein Captain und ehemaliger Chirurg, der sich für Harvey verantwortlich fühlt. Während Ross Manson mit „Heads or Tales“ Erfolge feiert und dabei die Urheberschaft für sich allein reklamiert, baut Jason seinen Freund Harvey in Hollywood zum gefeierten Horrorfilm-Star auf. Mittels eines ganz speziellen Kniffs aus den Abteilungen des Horror-Genres.
Autor Serge Le Tendre („Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit“, „Chinaman“) lässt in seinem Zweiteiler „Die Haut des Anderen“ viele bekannte Motive aus Film und Literatur einfließen: ein wenig Rachegeschichte aus „Graf von Monte Christo“, ein wenig „Prestige – Duell der Zauberer“, ein wenig Nazi-Wissenschafts-Folklore, ein wenig Dreiecksgeschichte. Dazu reichlich selbstreferenzielle Horror- und Noir-Elemente. Harvey mit seiner grausam entstellten Gesichtshälfte erinnert natürlich samt Namen an den klassischen Batman-Widersacher Two-Face, seine Schauspielkarriere und seine Horror-Rollen haben Lon Chaney (den Senior!) zum Vorbild, den man auch aufgrund seiner Wandlungsfähigkeit und verschiedenster Masken den „Man with a Thousand Faces“ nannte. Und Harveys Künstlername borgt sich Le Tendre aus einem Roman von Joseph Conrad.
Parallel zum buchstäblich unheimlichen Aufstieg Harveys verfolgen wir eine brutale Mordserie im Rotlichtmilieu, wo ein Serienkiller sein Unwesen treibt. Schnell zeigt sich, dass Jason, inzwischen auch Manager bzw. Agent von Harvey, mehr im Schilde führt, als wir wissen. Und als schließlich Ross wieder auftaucht, der ausgerechnet Harvey (den er freilich nicht mehr erkennt) gegen sein Horror-Image als Hauptdarsteller für seine Verfilmung von „Heads or Tales“ engagieren will, eskaliert die Situation. Es ist eine wilde Mischung, auch ein Spiel mit Identitäten, mit der Traumwelt Hollywoods und ihrer schönen Fassade. Die Story schlägt einige Kapriolen und wartet mit einem beunruhigenden wie gelungenem Schluss auf. Gaël Séjournés Zeichnungen bleiben solide und unspektakulär, erfüllen aber ihren Zweck, wobei fiktive Filmplakate und echte Stars (wie Horror-Ikone Boris Karloff) für das passende Zeitkolorit sorgen. Beide Alben sind als Splitter Double in einem Band erhältlich.
Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de
Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.