Für einen Franken am Tag

Die sogenannte „Verdingung“ gilt als eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte: Von 1800 bis in die 1960er Jahre wurden mehrere zehntausend Kinder von ihren Familien getrennt und wohlhabenderen Bauernfamilien zum Arbeitseinsatz auf deren Höfen zugeteilt. Dort besaßen die Kinder kaum rechtlichen Schutz und waren sehr häufig krasser Ausbeutung, körperlicher und seelischer Misshandlung sowie sexuellem Missbrauch ausgesetzt. Doch erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts bemühte man sich, nachdem eine Reihe von Spielfilmen das Thema erfolgreich ins Zentrum der schweizerdeutschen Erinnerungskultur rückte, um eine juristische und politische Aufarbeitung. Einer offiziellen Entschuldigung der Regierung im Jahre 2013 folgte drei Jahre später die Einrichtung eines Entschädigungsfonds für die noch lebenden Opfer der Kinderzwangsarbeit.

Im Sinne der Aufarbeitung eines historischen Unrechts scheint daher Lika Nüsslis in diesem Jahr veröffentlichte Erzählung „Starkes Ding“ auf den ersten Blick etwas spät dran zu sein. Doch handelt es sich einerseits um eine persönlich inspirierte Annäherung an das Thema – Nüssli erzählt hier die Geschichte ihres Vaters – und andererseits ist das Thema Sklaven- bzw. Zwangsarbeit im Vorfeld der gerade stattfindenden Fußballweltmeisterschaft in Katar medial omnipräsent. Basis der Graphic Novel sind die Kindheitserinnerungen des Vaters, der im Alter von zwölf Jahren nach Ende des Zweites Weltkrieges von seiner Familie für einen Franken am Tag an einen anderen Hof verkauft wird, um dort zu leben und – vor allem – zu arbeiten.

© Edition Moderne

Es sind weniger die harte Arbeit auf den Feldern und in den Ställen, welche der junge Ernst bereits von Zuhause aus kennt, sondern die Trennung von seiner Familie und die sehr schlechte Behandlung durch seine Gastfamilie, welche dem Jungen zusetzen. Die Frage nach dem Grund dafür, von seinen Eltern fortgeschickt worden zu sein, quält den Jungen ebenso sehr wie die Tracht Prügel für das „Herumtreiben“ nach der Schule. Dennoch erträgt er fast klaglos sein Schicksal, auch im Wissen darüber, dass er dieses mit zahlreichen anderen Jungen und Mädchen seines Alters teilt. So vergehen mehr als vier entbehrungsreiche Jahre, bis er sich an den Vater wendet, um den fremden Hof endlich verlassen zu dürfen.

Nüsslis grafischer Stil orientiert sich an der historischen, naiv anmutenden Senntumsmalerei, die sich im 19. Jahrhundert in der Ostschweiz herausbildete und vor allem die Lebens- und Arbeitswelten der Hirten („Sennen“) und Bauern zum Gegenstand hatte: ganz- bzw. doppelseitige Almwiesenpanoramen, sich zu den Berggipfeln hinaufschlängelnde Serpentinen, schlichte Gehöfte und das dazugehörige Viehzeug prägen die Bilderwelt der Erzählung. Doch verglichen mit der für die Bauernmalerei typisch eingängigen, bunten Bildsprache sind die skizzenhaft gehaltenen Schwarz-Weiß-Zeichnungen der Comickünstlerin psychologischer und kehren förmlich das Innere des Protagonisten nach außen.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 27.11.2022 auf: Taz-[ˈkɒmik_blɔg]

Mario Zehe (*1978) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Lehrer für Geschichte, Politik & Wirtschaft an einer Freinet-Schule bei Quedlinburg (Harz). Seit vielen Jahren liest er Comics aller Art, redet und schreibt gern darüber, u. a. im [ˈkɒmik_blɔg] der Taz und für den Freitag.

Lika Nüssli: „Starkes Ding“. Edition Moderne, Zürich 2022. 232 Seiten. 29 Euro