„Um die Sexualität zu befreien, vor allem die der Frauen, muss man zunächst die Worte befreien“, sagt die Autorin Leïla Slimani der Bloggerin Nour im Jahr 2015 nach einer Lesung in Rabat. „Die arabischen Revolutionen, das Entstehen einer Mittelschicht und die Verbreitung der sozialen Netzwerke ermöglichen es immer mehr, dass sich die Zungen lösen. Mir gefällt das sehr, es gibt mir Hoffnung für die Zukunft.“
Die 1981 in Marokko geborene und seit den späten Neunzigern in Frankreich lebende Slimani hat allen Grund zur Hoffnung. Als erste Frau überhaupt ist sie 2015 für ihren Debütroman, das noch nicht auf Deutsch vorliegende Buch „Dans le jardin de l’ogre“ („Im Garten des Menschenfressers“), mit dem marokkanischen Mamounia-Literaturpreis ausgezeichnet worden. Der Roman tastet in mehrfacher Hinsicht Tabus der marokkanischen Gesellschaft an – umso erstaunlicher, dass er in dem arabischen Land, in dem Sex vor der Ehe verboten ist, mit einem Literaturpreis bedacht wurde. „Dans le jardin de l’ogre“ erzählt aus der Perspektive einer Frau von sexuellen Obsessionen, aber auch vom gesellschaftlichen Druck, dem Frauen gegenwärtig ausgesetzt sind. Das sexuelle Doppelleben der Protagonistin Adèle ist ihre Form der Flucht vor dem Druck gesellschaftlicher Erwartungen. Dank des Literaturpreises konnte Slimani mit dem Buch für eine Lesereise Marokko besuchen, während der sie Nour kennenlernte. Eine Begegnung, die Ausgangspunkt wurde für zwei weitere Buchprojekte, die soeben auf Deutsch erschienen sind: Die Essay- und Interviewsammlung „Sex und Lügen. Gespräche mit Frauen aus der arabischen Welt“ und die gemeinsam mit der Zeichnerin Laetitia Coryn entwickelte Graphic Novel „Hand aufs Herz„.
Die Begegnungen und Gespräche mit Frauen in Marokko hätten ihr gezeigt, so Slimani im Vorwort zu „Hand aufs Herz“, dass „einige Gesetze zur Sexualität, aber auch allein die sozialen Zwänge“ die Emanzipation erschweren. Aus der Erkenntnis heraus, dass trotz „arabischem Frühling“ und politischen Versprechungen die Situation für Frauen in Marokko weiterhin schwierig ist, entstand das Vorhaben, ihnen eine Stimme zu geben.„Frauen müssen einen Weg finden, um wieder Einfluss auf eine Kultur zu nehmen, die die Geistlichen und das Patriarchat an sich gerissen haben. Indem sie von sich erzählen, nutzen sie eine der mächtigsten Waffen gegen Hass und Heuchelei: das Wort“, schreibt sie in „Sex und Lügen“. Seit der Publikation von „Dans le jardin de l’ogre“ hat sich Leïla Slimani selbst zu einer Autorin entwickelt, die in Frankreich von einem größeren Publikum wahrgenommen wird: Für ihren zweiten Roman „Dann schlaf auch du“ wurde sie 2016 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, dem bedeutendsten Literaturpreis Frankreichs. 1999 war Slimani zum Studium der Politikwissenschaft nach Frankreich gekommen und berichtete danach, neben ihrem Job als Schauspielerin, als Journalistin für das Wochenmagazin Jeune Afrique über nordafrikanische Themen, allerdings nur mit einer begrenzten Reichweite. Nun ist sie plötzlich auf Zeitschriftencovern abgebildet und findet sich an der Seite Emmanuel Macrons wieder. Sie nutzt die Aufmerksamkeit für ihre Person, um sich für eine Stärkung der Frauenrechte im Maghreb einzusetzen, wie sie in ihrem Essay „Sex und Lügen“ formuliert: „Während ich den Frauen zuhörte, drängte es mich, die Realität dieses Landes zu zeigen, die so viel komplexer und schmerzlicher ist, als man uns glauben machen will.“
Literatur sei für sie ein „Raum der Freiheit“, sagte Slimani in einem Interview, ein Raum, an dem sie frei sei von ihr zugeschriebenen Identitäten wie „Marokkanerin“, „Französin“ oder „Migrantin“. Und ebenso sei die Literatur ein Raum, in dem sexuelle Freiheiten erprobt werden können, indem sie ausgesprochen und öffentlich gemacht werden, auch wenn es einige Leser angesichts ihres ersten Romans erstaunt habe, dass eine maghrebinische Autorin so unverblümt über das Thema Sexsucht schreibe, wie sie in „Hand aufs Herz“ ihr gezeichnetes Selbst erklären lässt: „Aufgrund meiner Herkunft hätte ich mehr Schamgefühl zeigen und mich mit einem erotischen Text mit orientalischen Akzenten begnügen sollen.“ „Ganz im Geiste von Scheherazade!“, ergänzt Nour und spielt damit auf eine der Hauptfiguren aus „Tausendundeiner Nacht“ an.
Ironisch greift Slimani in der Tat auf die Struktur dieser Erzählungen zurück, wenn Nour, die der Autorin von ihrem Sexleben erzählt, in ihre Erzählung die Erinnerungen einer Freundin integriert und so Geschichten ineinander verschachtelt. Nour berichtet beispielsweise von ihrer früheren Mitbewohnerin Zhor, die die Macht der Moralerziehung in Marokko schmerzlich erleben musste: „Als Kind hat man mir eingeschärft und gepredigt, dass es falsch ist, mit jemandem zu schlafen.“ Als Jugendliche wurde sie vergewaltigt. „Damals hatte ich mehr Angst vor meinen Eltern und der Gesellschaft als vor der Vergewaltigung selbst. Ich war überzeugt, dass man mich einsperrt, dass man mir vorwirft, die Typen provoziert zu haben.“ Diese Angst war nicht abwegig: Als sie Freundinnen davon erzählte und es sich herumsprach, war die Folge, dass Zhor mit den feindseligen Blicken der Nachbarn und ihrer Eltern leben musste. Wegen ähnlicher Erfahrungen behalten viele Frauen das Erlebte für sich. Zhor konnte sich von den Moralvorstellungen, die ihr eingeimpft wurden, befreien und sagte Nour, als sie sich kennenlernten: „Ich bin 28 und alleinstehend, und das finde ich super! Ich hab nicht die Absicht, zu heiraten, höchstens vielleicht als Zweckehe.“
Leïla Slimani und die Zeichnerin Laetitia Coryn porträtieren Frauen wie Nour oder Zhor, die sich nicht zufriedengeben mit den langsamen Fortschritten des Emanzipationsprozesses im Maghreb. „Die marokkanische Frau wird nicht unterworfen, sie sitzt nur in der Scheiße“, sagt die Soziologin Sanaa El Aji. Zwar nehmen Frauen immer mehr öffentliche Positionen ein und es herrscht in Marokko kein Kopftuchzwang, doch immer wieder zeigt sich, dass die religiösen Moralvorstellungen zu tief in der Gesellschaft verankert sind, als dass man sie innerhalb weniger Jahre überwinden könnte. Männer, die sich als weltoffen und modern präsentieren, bekennen wie der Student Brahim nebenbei: „Wenn ich heirate, dann eine Jungfrau.“ Als seine Gesprächspartnerin mit Unverständnis reagiert, wird er wütend: „Das ist doch mein gutes Recht! Ich hab das Recht, sowohl ficken zu wollen, als auch eine Jungfrau zu heiraten! Du bist echt voll die intolerante Tussi!“ Das ist nur ein Beispiel dafür, welch große Rolle ein intaktes Jungfernhäutchen in der marokkanischen Gesellschaft spielt. Die Ärztin Malika, eine Freundin von Nour, erzählt: „Bevor ich Ärztin geworden bin, habe ich nicht verstanden, wie wichtig die Jungfräulichkeit ist. Das hat mich zutiefst schockiert. Vor einigen Jahren hat man mir um acht Uhr morgens ein junges Mädchen gebracht. Es war der Morgen nach ihrer Hochzeitsnacht, und ich sollte feststellen, ob sie gerade erst oder schon vorher entjungfert worden war.“ Trotz solcher Berichte und politischer Rückschläge wie der juristischen Entscheidung, das Recht auf legale Schwangerschaftsabbrüche lediglich bei Vergewaltigung, Inzest und schweren fötalen Missbildungen zuzulassen, und den Schwierigkeiten alleinstehender Frauen, ohne Mann überhaupt eine Wohnung zu finden, bleibt Slimani vorsichtig optimistisch. Auch die warmen Farben der Bilder von Laetitia Coryn und die abgebildete Weite der marokkanischen Landschaft sollen ein Marokko symbolisieren, das zumindest das Potential besitzt, Frauen ein freies Ausleben ihrer Sexualität zu ermöglichen.Die Gegenwart jedoch gehört den Männern, die es sich bequem eingerichtet haben in ihren Freiheiten und ihren Moralvorstellungen, in denen Sex vor der Ehe und der Wunsch, eine Jungfrau zu heiraten, keinen Widerspruch bilden. Sie sind es, die sich ändern müssen, wenn Sexualität nicht weiterhin ausschließlich im „freien Raum der Literatur“ ausgelebt werden soll, weswegen „Hand aufs Herz“ auch mit dem „Blick der anderen“, der Männer endet, und der Hoffnung, dass die dort formulierten Wünsche irgendwann von der Mehrheit der Männer geteilt werden: „Wie viele meiner Freunde hab ich nicht viel übrig für diese rückständige und verlogene Moral, die uns daran hindert, unsere Jugend zu genießen, und das gilt sowohl für uns Männer als auch für die Frauen. Aber selbst wenn es schwierig ist, sich Gehör zu verschaffen, wir geben nicht auf. Sie werden uns nicht mehr zum Schweigen bringen. Dieses Land wird sich verändern.“
Dieser Text erschien zuerst in: Jungle World 42/2018
Hier findet sich eine weitere Kritik zu „Hand aufs Herz“.
Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins.