In diesem Kunstmärchen wird alles gegen den Strich gebürstet: Die Tüchtigen sind die Übeltäter und der faule Hallodri ist der Held und Retter. Dabei kommt der vom Wahlschweizer Tim Krohn geschriebene Plot zunächst ganz klassisch daher.
Es geht um den Gärtner eines Königs und um dessen Söhne. Der Gärtner hat einen Baum gezüchtet, der goldene Äpfel trägt. Davon ist der, selbst kinderlose, König so begeistert, dass er einen der Söhne des Gärtners zu seinem Nachfolger machen will. Besonders geeignet erscheinen dafür Lupus und Uors, denn anders als ihr jüngster Bruder Pippin arbeiten sie tüchtig als Jäger und Förster, während Pippin am liebsten den ganzen Tag Vögel beobachtet und zu sonst nichts taugt. Als dann goldene Äpfel vom Baum geklaut werden, wittern Lupus und Uors ihre Chance, sich als Nachfolger des Königs zu bewähren. Es ist dann aber ausgerechnet Pippin, der es schafft, den Apfelklau zu beenden. Den Täter – einen goldenen Reiher – überführt er aber nicht, weil er dazu gar keine Lust hat. Damit legt er den Grundstein für ein großes Abenteuer, denn die goldene Feder, die der Reiher verliert, weckt beim König Begehrlichkeiten.
Tim Krohn hat mit „Pippin der Nichtsnutz“ ein Märchen mit zeitgemäßer Moral geschrieben. Denn das Handeln der Brüder ist vor allem auf die Zerstörung der Natur angelegt: Lupus schießt mit seiner Jagdflinte alle Vögel ab, um zu verhindern, dass weitere goldene Apfel geklaut werden. Und Uors fällt den königlichen Obstgarten, damit die Diebe keine Deckung finden. Eine Lösung des Problems erreichen sie damit nicht. Das gelingt vielmehr Pippin, der dem goldenen Reiher zuhört und dem Klau der goldenen Äpfel damit ein Ende bereitet.
Tim Krohn geht mit seiner Moral aber noch weiter: Bei ihm führt nicht nur zerstörerisches Tun zu nichts, sondern auch der Wunsch nach Aufstieg und Wachstum. Je mehr die Brüder Lupus und Uors nach Aufstieg und größerer Bequemlichkeit streben, desto mehr werden sie zu Verlierern. Allein Pippin, der nichts will als gemütlich unter Bäumen zu liegen, wird reicher aus dem Abenteuer hervorgehen. Reicher an Erfahrung, an Liebe – und am Ende bekommt er auch ein Königreich.
Dass nicht den Tüchtigen die Gunst zufliegt, ist ungewohnt. Der Zeichner Chrigel Farner sorgt mit seinen handgemalten Bildern dafür, dass sich diese Geschichte trotzdem wie ein klassisches Märchen liest. Für die Heldenreise, die er in der spektakulären Landschaft der Bündner Alpen in der Schweiz ansiedelt, hat er sich klassische Märchenillustrationen des Jugendstils als Vorbild genommen.
Bei Chrigel Farner sehen die Bilder allerdings nicht so lieblich aus. Wuchtig wirken die Kämpfe zwischen Menschen und Märchenwesen. Und wuchtig wirken auch die Emotionen, die Farner den Figuren ins Gesicht malt. Das gilt für die fette Saturiertheit des Königs genauso wie für die Verzweiflung, die Pippin überfällt, wenn er vor neuen gefährlichen Aufgaben steht. Das wirkt deutlich bedrohlicher, als Märchenillustrationen gemeinhin daherkommen. Und genau deshalb entfaltet der Comic „Pippin der Nichtsnutz“ einen besonderen Sog. Übrigens auch für Kinder. Meine 7-jährige Tochter liebt Pippin und seine Abenteuer.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 07.12.2022 auf: kulturradio rbb
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.