Nicht nur für Anfänger

Guy Delisles "Aufzeichnungen aus Jerusalem" (Reprodukt)

In ihren Anfangstagen klärten sie über den korrekten Gebrauch der Zahnbürste, mögliche Schutzmaßnahmen im Falle eines sowjetischen Atomschlags oder Sexualkrankheiten auf, heute erklären sie fast alles. Sachcomics für Kinder und Jugendliche sind zu einem sehr beliebten Medium geworden, spätestens seit sich in den Fünfzigern ein Teil der Comicindustrie auch auf realistische „Abenteuer“ jenseits von Superheldenstorys spezialisiert hat.

Einst entstanden Comics über Filmstars, Politiker oder wichtige Mediziner zur Erziehung der Jugend – Superhelden des wirklichen Lebens als Vorbilder. So zeichnete der Comicpionier Will Eisner während des Zweiten Weltkriegs Lehrcomics zur Instandhaltung von Armeeausrüstung, später konzipierte er Comics zu Themen wie Gartenpflege, Autokauf, Kochen und Sicherheit im Haushalt. Und obwohl in den Anfängen auch Erwachsene zum Zielpublikum gehörten, traten diese Erwachsenen als Leser im Lauf der Jahrzehnte zunehmend in den Hintergrund.

Insbesondere in Deutschland, wo der Comic ohnehin kein besonders hohes Ansehen genoss, findet man bis zur Jahrtausendwende nur vereinzelte Sachcomics für Erwachsene. Mit Ausnahme eines kleinen Booms in den späten Siebzigern, als der Rowohlt-Verlag mit seiner „… für Anfänger“-Reihe sechsstellige Verkaufszahlen erzielte, was jedoch weniger dem Medium Comic als den richtigen Inhalten zur richtigen (Friedensbewegungs-)Zeit zu verdanken war: Mao, Marx, Lenin, Atomkraft und Imperialismus für Anfänger lauteten einige der Toptitel. Doch ebenso schnell wie sie gekommen waren, verschwanden diese Titel wieder vom Markt und überschwemmen bis heute die Antiquariate.

Seit die Graphic Novel in den vergangenen Jahren auch das Feuilleton erobert hat und ein stetig wachsendes erwachsenes Publikum nach immer neuen Formen grafischen Erzählens verlangt, ist auch der Sachcomic zurück auf der Bildfläche: so vielseitig wie noch nie, von klassischen Einführungssachcomics bis hin zu Künstlerbiografien. Angesichts dieser Vielfalt tauchen jedoch Fragen auf. Etwa danach, wo das illustrierte Sachbuch endet und der Sachcomic beginnt.

Und sind zwei der erfolgreichsten Graphic Novels der letzten 30 Jahre, Art Spiegelmans „Maus“ und Marjane Satrapis „Persepolis“, obschon als Graphic Novels verkauft, streng genommen nicht Sachcomics, durch deren Lektüre mehr Wissen über die Schrecken des Nationalsozialismus oder die Unterdrückungsmechanismen der Islamischen Republik Iran vermittelt wird, als so manches Sachbuch dies schafft?

Inzwischen ist der Boom auch von der Wissenschaft bemerkt worden. Mit „Wissen durch Bilder“ erschien ein Reader zum Thema. Leider hilft das Buch, das mit viel Spezialwissen aufwartet, bei der genauen Beantwortung der Fragen nur bedingt weiter. Alles zwischen Autobiografie, Geschichtscomic, Biografie, didaktischen Biologiecomics für den Schulunterricht und Comicadaptionen von literarischen Werken wird hier unter Sachcomics subsumiert.

Statt einer genauen Definition ist ohnehin die Frage spannender, was den Sachcomic von verwandten Medien wie dem Sachbuch oder dem Dokumentarfilm abhebt. Worin liegt das Potenzial von Wissensvermittlung durch Bildersequenzen? Strenge Sachcomics wie „Kontinentale Philosophie“, „Unendlichkeit“ oder „Kleine Geschichte der Genossenschaften“ führen zwar wunderbar in die jeweiligen Thematiken ein – wenn auch angesichts des Anspruchs, etwa die gesamte Geschichte kontinentaler Philosophie von Nietzsche bis Žižek vorzustellen, zwangsläufig nur in Schlaglichtern. Es bleibt jedoch offen, warum man statt eines Sachbuchs zum Thema ausgerechnet zur Comicversion greifen sollte.

Die Linken drehten durch

Denn gerade ein Alleinstellungsmerkmal des Comics, die Verknappung, kann ihm auch zum Nachteil gereichen, wenn Sachinhalte tatsächlich „verkürzt“ dargestellt und etwa die Folgen der Französischen Revolution auf den Satz „Die Linken drehten durch und brachten unter der Terrorherrschaft ihre Rivalen um“ reduziert werden. Die in „Economix“ gewinnbringend eingesetzte Faktenverknappung von Adam Smith bis zu Occupy Wallstreet bekommt dann einen fahlen Beigeschmack. Nach dem Lesen dieser Sachcomics ist man schlauer als vorher, unzweifelhaft, aber auch schlauer als nach einem Sachbuch? Zweifelhaft. Wie ein ironischer Kommentar zur Strenge dieser Comics wirkt da die Ratgeberparodie „Ratgeber für schlechte Väter“ von Sachcomic-Star Guy Delisle („Aufzeichnungen aus Jerusalem“).

Wie breit das Spektrum der ästhetischen Möglichkeiten des Comics ist und wie manchmal klug, manchmal weniger klug diese genutzt werden, zeigt sich am ComicSubgenre Biografie. Während die liebevolle Hommage „Marx“ den Denker als sympathischen Superhelden, Familienvater und Revolutionär darstellt, sich dabei selber nicht zu ernst nimmt, die Theorien Marx’ dagegen schon, scheitert „Wagner“ an der Ehrfurcht vor dem Komponisten, die sogar so weit geht, Wagners Antisemitismus auf zwei Seiten abzuhandeln und als Folge einer persönlichen Frustration zu bagatellisieren. Ohnehin werden kaum politische Kontexte vermittelt, stattdessen verfehlt „Wagner“ sein Ziel, die Monumentalität der Musik in Bilder zu packen. Wie gut es ohne Ehrfurcht gehen kann, zeigt „Pablo“, eine auf vier Bände angelegte Darstellung der Pariser Jahre Picassos, die sich gleichzeitig als eine Hommage an das Paris zur Jahrhundertwende erweist. Am meisterhaftesten dürfte die Verschränkung von Kunst und Leben in „Kafka“ gelungen sein, eine Biografie, der man in jedem Panel die Auseinandersetzung von Crumb und Mairowitz mit Franz Kafka anmerkt. Literarisches Werk und Biografie werden aufeinander bezogen, das eine aus dem anderen erklärt, Comicbilder gefunden für die literarischen Bilder des Autoren, und selbst für Kafka-Kenner ergeben sich neue Erkenntnisse. Weniger ein Künstler als vielmehr eine Kunstinstitution steht in „Einmal durch den Louvre“ im Mittelpunkt. Die Aneinanderreihung von Zeichnungen von Menschen, die Fotos von Gemälden machen, wirkt wie ein Kommentar zur Kunstrezeption im Zeitalter der digitalen Fotografie und lädt dagegen zum Verweilen ein.

Während das Genre Biografie im Kontext Sachcomic wenig verwundert, ist die Vielzahl an Veröffentlichungen zu „kulinarischen Fragen“ durchaus bemerkenswert. Die Arbeiten reichen dabei von der etwas bemüht wirkenden Verschränkung der Gemeinsamkeiten des Weinanbaus und des Comiczeichnens in „Die Ignoranten“ (wobei man durchaus Bemerkenswertes über beide Arbeitsfelder lernt) bis hin zum alltagstauglichen, humoristischen „Kann den Kochen Sünde sein?“. Etwas gesetzter geht es dagegen in „In der Küche mit Alain Passard“ zu, das die Rezepte, die Geheimtipps und den (Koch-)Alltag des französischen Drei-Sterne-Stars in appetitanregende Zeichnungen übersetzt. Dennoch steht am Ende der Lektüre die Frage nach dem Sinn dieses neuen Genres, denn weder als Comic noch als Kochbuch wollen sie so recht funktionieren.

Eine klarere Botschaft formuliert der Comic „Mit dem Elefantendoktor in Laos“, der im Stile eines Kinderbuchs den Alltag von zum Holztransport eingesetzten Elefanten und Maßnahmen zu deren Schutz beschreibt. Und der ebenfalls im Fernen Osten angesiedelte Comic „Ein Leben in China“, die in bislang drei Bänden erzählte, autobiografisch angehauchte Geschichte Chinas von den Fünfzigern bis heute, vermittelt jenseits der Historie in den Zeichnungen Li Kunwus auch einen Eindruck der Ästhetik chinesischen sequenziellen Erzählens.

Aber ist diese lose autobiografische Geschichte überhaupt noch ein Sachcomic? Ein fiktiver Rahmen, in dem Sachinformationen vermittelt werden, zeichnet auch „Das Schweigen unserer Freunde“ aus: Ein Comic, der auf den Kindheitserinnerungen Mark Longs basierend an ein Amerika der Rassentrennung erinnert.

Selbstreflexive Komponente

Es bleiben angesichts zahlreicher Veröffentlichungen, die dem Genre Sachcomic zugeordnet werden können, insbesondere jene in Erinnerung, die Grenzen zwischen Sachcomic und Graphic Novel aufweichen. Etwa „Auf den Spuren Rogers“ von Florent Silloray, eine in Ästhetik und Inhalt anspruchsvolle Umsetzung der Tagebücher des Großvaters aus der Haft in einem deutschen Kriegsgefangenenlager. Solche Arbeiten haben Vertrauen in das Medium Comic, historische Fakten vermitteln zu können, ohne dabei Objektivität betonen zu müssen. Denn „Geschichte“, im doppelten Sinne des Worts, ist im Comic immer schon eine vermittelte, in Zeichnungen und Karikaturen übersetzte, und deshalb niemals objektiv, sondern eine subjektive Interpretation der Welt durch die Augen des Zeichners.

Gerade dieses Spannungsverhältnis zwischen objektiven Fakten und subjektiver Interpretation ist es jedoch, was den Comic zu einem spannenden Vermittler von Information und Geschichte macht – besonders wenn er, statt die Ambivalenzen hinter der Strenge eines Infocomics zu verstecken, diese in den Vordergrund rückt.

Dieser Text erschien zuerst am 10.10.2013 in: Der Freitag (Literaturbeilage Ausgabe 41/13)

Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins.