Fabrice Lebelauts Oneshot „Selenie“ ist ein melancholisch-traumwandlerisches SF-Varieté, das ein Mondreise-Motiv aufs nächste häuft.
Irgendwann in der Zukunft: Die Erde ist verwüstet. Die Spuren eines verheerenden Krieges überziehen wie Narben die menschenleere Einöde. Durch einen Zufall wird ein verschütteter Roboter wieder aktiviert, der sich sogleich auf eine noch unbekannte Mission begibt. Harscher Ortswechsel: Wir befinden uns auf dem Mond. Offenbar konnten einige Menschen vor dem irdischen Krieg fliehen und leben nun dort geschützt unter riesigen Glaskuppeln. Nachrichten von der Erde, vom Widerstand, der gegen die Eroberer kämpft, bleiben schon seit langem aus. Da taucht ein unbekanntes Schiff auf, das von der Erde stammen könnte und das außerhalb der Kuppeln bruchlandet. Königin Selenie und der draufgängerische Vernes brechen zu einer gefährlichen Mission auf, um das Objekt zu untersuchen.
Autor und Zeichner Fabrice Lebeault (u. a. „Horologium“, „Mit fremder Feder“) präsentiert in seinem abgeschlossenen Einzelband ein Science-Fiction-Wunderland, das seine phantastischen Vorbilder nicht leugnet, sondern vielmehr bewusst zitiert und das durch seine verspielte Fantasie – sowohl visuell als auch inhaltlich – eine märchenhafte Note erhält. Was schon die Figuren zeigen: Vernes, der seinen Namen von Jules Vernes borgt, gleicht einem typischen Pulp Helden wie Flash Gordon. Der Junge Méliès erinnert an den ewigen Träumer Little Nemo und trägt den Namen des Filmpioniers Georges Méliès. Aus dessen „Reise zum Mond“ aus dem Jahre 1902 stammen die Bewohner des Mondes, die Seleniten. Es gibt mit dem Androiden Tatterich den (Mond)Mann im Mond und mit Charpin einen Antagonisten, für den ganz offensichtlich Charles Chaplin Pate stand. Und auf der Erde erinnert die wortlose Eingangs-Episode an den Animationsfilm „Wall-E“, samt Video-Unterstützung, die von Vault Boy aus „Fallout“ inspiriert ist.
Die Mondwelt unter den Kuppeln, das ausladende Refugium der Menschen, zeigt eine üppige Natur, Königin Selenie residiert in einem Disney-Märchenschloss und fliegende Retro-Autos schweben durch die Lüfte. Es gibt Referenzen auf Méliès‘ „Reise zum Mond“, aber auch Hergé und Moebius werden (optisch) gewürdigt. Selenie und Vernes durchstreifen die karge Mondoberfläche mit Reittieren, die überdimensionalen Seepferdchen gleichen. Kernstück des Bandes ist aber die abenteuerliche wie gefährliche Expedition zum havarierten Schiff mit dem sogenannten Pneumaphor, einem ganz besonderen Gefährt mit ungeahnten nützlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, das allen Gefahren trotzt und bald zum heimlichen Star der Geschichte avanciert. Und dann – nur das sei verraten – begeistert noch ein Twist, der das Geschehen in einem anderen, aber stimmigen Licht erstrahlen lässt. „Selenie“ ist ein höchst origineller Band für alle Science-Fiction-Träumer.
Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de
Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.