Amnesie statt Tod

In ihrer Grimm-Adaption „Vom Wacholderbaum“ geizt die spanische Comiczeichnerin Núria Tamarit nicht mit drastischen Mitteln, bettet sie aber in einen neuen Kontext.

Die 30-jährige Zeichnerin Núria Tamarit aus Villareal hat einen hohen Output. Im Oktober 2022 kam ihr neuer Comic „Vom Wacholderbaum“ bei Reprodukt heraus. Erst kurz zuvor hatte Tamarit dort schon die Graphic Novel „Toubab – Zwei Münzen“ veröffentlicht (hier spricht Tamarit im Interview über den Band), in der sie die Sicht eines europäischen Teenagers auf Alltag und Philosphie der Menschen eines senegalesischen Dorfes lebensnah zeigt.

Auffallend an ihrem Stil sind Gesichter, deren Augen keine Pupillen haben, dazu die klaren Outlines um geschmeidige Figuren, und eine satte und doch natürliche Farbigkeit. In ähnlicher Ästhetik, aber anderem Erzählstil verwandelt sie das Märchen „Von dem Machandelboom“, einer der grausamsten Geschichten der Brüder Grimm. Es enthält eine Menge Motive, die Kinder verstören könnten: ein verstoßenes Kind, eine böse Stiefmutter, Kindsmord, Kannibalismus, seelische Grausamkeit. Was in Märchen nicht außergewöhnlich ist, jedoch in den populären Veröffentlichungen für Kinder meistens auf ein zahmes Level mit Happy End runtergebrochen wird. Tamarit stellt sich in ihrer Adaption diesem Konflikt, indem sie Grausamkeit darstellt und gleichzeitig in einen neuen Kontext bettet. Diese Motive hebt sie hervor und stellt sie dem Schrecken gegenüber. So zeigt sie, wie ein Kind von seiner Stiefmutter geköpft wird. Die Täterin steht bei ihrer Version jedoch unter dem Einfluss einer Teufelin. Die liebe Schwester des Kindes vergräbt die Knochen des Bruders unter dem Wacholderbaum, woraufhin dem Busch der Junge in der Reinkarnation eines Vogels entfleucht, welcher herumfliegt und bezaubernd singend von den schlimmen Erlebnissen kündet: „Meine Mutter mich erschlug, mein Vater mich aß, mein Schwesterlein mich zusammenlas…“ Er rächt sich, indem er einen Stein auf den Kopf der Mutter fallen lässt. Im Unterschied zur Ur-Version kommt die Stiefmutter belehrt, aber glimpflich, vor allem lebend davon. Der Steinschlag sorgt nur für eine Amnesie.

Das drastische Märchen wurde Tamarit vom Verlag Les Aventuriers de l’Étrange zur Umsetzung innerhalb einer Konzeptreihe mit Märchenadaptionen von verschiedenen Künstler*innen angeboten. Es gefällt ihr, „weil es sowohl die Kraft der Natur offenbart als auch zeigt, dass Menschen ohne erkennbaren Grund Böses tun können“, sagte sie in einem Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober ’22. Dabei verzichtet sie bewusst auf pädagogische Abrundung und zeigt den Akt des Köpfens, den sie aber aus Gründen der Darstellbarkeit abwandelt. Die Verwandlung der Stiefmutter zur Bösen überantwortet sie einer Teufelin, die erscheint, um zu manipulieren. „Kinder lieben Teufel“, sagt sie. Die Dämonin gibt sich cool und spricht in der spanischen Variante eine Art Jugendsprache, wie auch das Böse oft verlockend cool daher kommt. Tamarits Meinung nach sollen Kinder in Büchern mit der Härte des Lebens konfrontiert werden, da Ungereimtheiten so realistischer abgebildet würden als in der pädagogisch korrekten Abfolge von Tat und moralischer Erkenntnis. Diese Ansicht teilt sie mit dem von ihr sehr geschätzten Altmeister Tomi Ungerer, der Anfang der 1970er neben anderen „Tabubrüchen“ einen Menschenfresser mit blutigem Messer auf dem Titelbild von „Zeraldas Riese“ zeigte und damit bei vielen auf Unverständnis und Ablehnung stieß.

Tamarits Stil zielt nicht auf eine möglichst realistische Darstellung ab, sondern enthält historisch-folkloristisch anmutende Elemente. Ästhetische Vorbilder sind u. a. die Britin Sophy Hollington und der Berliner Henning Wagenbreth. Technisch mixt sie Analoges mit Digitalem, wie bei den Kreidewolken auf einem digital colorierten Himmel. „Aus allem das Beste!“, laute ihr Motto, und das bringe sie auch ihren Studenten bei, ebenso: “Folge deinen eigene Ideen!“ Tamarits Ideen manifestieren sich meist in mehreren Projekten parallel. Neben feministischen Illustrationen und Comics arbeite sie gerade an einem weiteren Band zum Thema Ökofeminismus.

Núria Tamarit: Vom Wacholderbaum • Aus dem Spanischen von Lea Hübner • Reprodukt, Berlin 2022 • 72 Seiten • Hardcover • 18,00 Euro

Imke Staats hat in Hamburg Kommunikationsdesign studiert, ist freie Illustratorin und Autorin (u. a. Missy, taz, Folker), Schnellzeichnerin, Konzertzeichnerin und seit 2012 Kursleiterin für Zeichen-/Comic- und andere Kreativkurse in Schulen (Dauerbrenner Comic und Zeichnen), Lehrbeauftragte an Schulen.