Demokratie statt Holzbein

In „Die Totenkopfrepublik“ erzählen Vincent Brugeas und Ronan Toulhoat ein originelles Piratenabenteuer, das auf die üblichen Standardformeln des Genres verzichtet.

Irgendwo in der Karibik, im Jahr 1718. Kapitän Sylla, heimlicher Anführer der Piraten, gibt seinem Adjutanten Olivier de Vannes das Kommando über ein gekapertes Schiff. Bald darauf trifft der frisch gebackene Kapitän auf einen vermeintlich verlassenen, auf dem Meer treibenden Segler. Die afrikanischen Sklaven unter Führung der Königin Maryam haben die Kontrolle über das Schiff übernommen. Für de Vannes und seine Mitstreiter ist es selbstverständlich, dass sie bei den Piraten wohlwollend aufgenommen werden. Bald beherrscht Maryam die Grundlagen der Seefahrt und erhält ein eigenes Schiff. Gemeinsam mit Sylla und de Vannes geht sie auf Kaperfahrt. Doch die Engländer, die immer mehr die Region beherrschen, sind den Piraten auf den Fersen…

Drei grundverschiedene Charaktere beherrschen den Plot. Da ist einmal Kapitän Sylla, ein rhetorisch begabter Redner, charismatisch, dessen Führungsqualitäten den mangelnden nautischen Sachverstand wettmachen. Mit seiner blonden Mähne und dem stets sauberen weißen Hemd verkörpert er – schon fast mit parodistischen Zügen – den typischen Hollywood Swashbuckler. Dann Olivier de Vannes, eher bescheiden und kaum impulsiv. Ein hervorragender Seemann, der sich den Respekt seiner Männer jedoch immer aufs Neue verdienen muss. Und schließlich Maryam, die afrikanische Königin. Schweigsam wie bestimmt, stolz und erhaben, mit einer geheimnisvollen Aura. Sie wird immer mehr in den Mittelpunkt der Handlung rücken, selbst wenn sie gerade abwesend ist.

Der Band überrascht zu Beginn damit, dass Sylla als vermeintliche Hauptfigur gleich wieder aus der Story verschwindet (natürlich nur vorläufig). Stattdessen verfolgen wir de Vannes bei seiner Kaperfahrt. Dabei hat sich Autor Vincent Brugeas, der gemeinsam mit seinem Zeichner Ronan Toulhoat bereits einen „Conan“-Band realisiert hat, einen feinen Kniff ausgedacht. Nämlich die Logbuch-Einträge von Olivier de Vannes, anhand derer wir auch dessen Gefühlslage verfolgen können, und die sich direkt an den englischen Feind, verkörpert durch einen imaginären Kommodore Jonas, richten.

Bei den gängigen Piratenklischees hält sich der Comic angenehm zurück. Holzbeine, Papageien und Augenklappen sucht man hier vergebens. Brugeas und Toulhoat richten ihr Augenmerk vielmehr auf die vielbeschworene Piratenehre und versuchen, das tägliche Leben der Seeräuber und das Wesen ihrer Gesellschaft zu vermitteln. Man fühlte sich nicht mehr als Untertan, sondern als freie, gleichberechtigte Menschen unabhängig von Hautfarbe und Herkunft, weit weg von dem Joch der vermeintlichen Herren. Neben Freiheit war Demokratie Trumpf. Man wählte Kapitän und Quartiermeister und wählte diese auch wieder ab. Die Beute wurde gerecht verteilt, für Versehrte und Angehörige wurde gesorgt.

Anders als beispielsweise Franck Bonnet, in dessen Serie „USS Constitution“ jedes Schiffsdetail akkurat an seinem Platz ist, setzt Toulhoat auf kraftvolle, farbenfrohe Bilder und furios inszenierte, auf Doppelseiten präsentierte Enter-Action, die ganz ohne Worte auskommt. „Die Totenkopfrepublik“ ist ein mächtiger Comicband mit einer interessanten wie spannenden Story, die an den Stereotypen des Genres kein Interesse zeigt. Ein elfseitiger Essay, der sich mit der Piraten-Historie beschäftigt, beschließt den Band.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Vincent Brugeas (Autor), Ronan Toulhoat (Zeichner): Die Totenkopfrepublik • Aus dem Französischen von Harald Sachse • Splitter Verlag, Bielefeld 2022 • 224 Seiten • Hardcover • 35,00 Euro

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.