Marcello Quintanilha, geboren 1971 in Niterói (Bundesstaat Rio de Janeiro), zählt zu den umtriebigsten Akteuren der brasilianischen Comicwelt. Mit nur 16 Jahren stieg er als Autodidakt ins Comic-Bizz ein und begann für ein brasilianisches Magazin Horror- und Kampfsportcomics zu zeichnen. Seit den nuller Jahren veröffentlicht Quintanilha alle zwei, drei Jahre eine neue Graphic Novel, zum Teil auch direkt für den europäischen Markt. Seinen Durchbruch hatte er mit dem 2017 auch auf Deutsch erschienenen Krimi „Tungstenio“, der in Brasilien auch als Kinofilm adaptiert wurde.
„Hör nur, schöne Márcia“ ist eine Geschichte, die Quintanilha schon lange umtreibt. Sie erzählt eine Mutter-Tochter-Geschichte, voller widersprüchlicher Gefühle und Impulse, eingebettet in ein Porträt der Arbeiterklasse und des gewalttätigen Alltags in Rio de Janeiro. Im Mittelpunkt steht die titelgebende Márcia und ihre pubertierende Tochter Jacqueline, die als wandelnde Vulkaneruption das Leben der alleinerziehenden Mutter belastet. Als sich ihre Tochter mit der Jugendgang aus dem Viertel einlässt und anfängt, Drogenkurierdienste zu übernehmen, trifft Márcia die Entscheidung, der rebellischen Jaqueline zu helfen. In „Hör nur, schöne Márcia“ erzählt Marcello Quintanilha von dem Dilemma einer Mutter, deren Tochter in den Sog der Bandenkriminalität gerät.
Für seine Erzählung wurde Quintanilha mit dem Preis „Bestes Album des Jahres“ auf dem Internationalen Comicfestival Angoulême 2022 geehrt. Das folgende Presse-Interview erscheint mit freundlicher Genehmigung des Reprodukt Verlags.
Lieber Marcello, danke, dass du dir die Zeit genommen hast, mit uns über dein neues Buch „Hör nur, schöne Márcia“ zu plaudern. Könnten wir zunächst in deine Comic-Vergangenheit eintauchen? Du hast schon in jungen Jahren, in den 1980er Jahren, angefangen, Comics zu zeichnen und zu veröffentlichen. Wie bist du mit dem Medium in Berührung gekommen, und was hat dich zu dieser Kunstform hingezogen?
Ich habe mich schon immer für Comics interessiert, so lange ich zurückdenken kann. Am ehesten erinnere ich mich an die Comics, die in den 1970er Jahren in brasilianischen Zeitungen erschienen: „Alley Oop“, „Dick Tracy“, „Mandrake“ und „The Phantom“. Seit meiner Kindheit habe ich nie aufgehört, Comics zu lesen (und zu zeichnen). Die Kraft einer Geschichte, die durch Bildsequenzen erzählt wird, fasziniert mich heute noch genauso wie damals.
Ich habe keinen akademischen Hintergrund, und ich glaube auch nicht, dass dies unbedingt von Vorteil ist, denn ich habe es immer gehasst, mich an Regeln und Vorgaben zu orientieren, wie es im Kunststudium üblich ist. Stattdessen habe ich direkt angefangen, zu publizieren: 1988, als ich 16 Jahre alt war und meine Mappe – oder das, was ich für eine Mappe hielt – bei Bloch Editores in Rio de Janeiro vorlegte, habe ich prompt die ersten Aufuträge erhalten und durfte Horrorgeschichten und Kampfsport-Comics zeichnen, die der Verlag damals im großen Stil an die Kioske brachte.
Könntest du uns etwas über die brasilianische Comicszene erzählen? Welchen Stellenwert hatte das Medium Comic in den 1980er Jahren, als du deine ersten Schritte als Zeichner machtest? Welche Möglichkeiten gab es für junge Künstler in Brasilien? Und wie haben sich die Dinge seither entwickelt?
Anfang der 1980er war eine Hochzeit für das Comicmedium in Brasilien, aber die sollte nicht lange halten. Als Spätfolge der Militärdiktatur brach in den 1980ern die Wirtschaft zusammen, eine allumfassende Hyperinflation wirkte sich auf alle Bereiche der Gesellschaft aus, darunter natürlich auch die Verlagswelt und speziell die Comicbranche. Verlage wie Bloch, aber auch D‘Arte in São Paulo, der ebenfalls in den letzten Zügen lag, fielen wie Dominosteine um.
Comics mit eher realistischen Inhalten verschwanden zusehends vom Kiosk und zogen sich in die Galerien zurück. Ausstellungen waren eine der letzten Nischen für diese spezielle Art des Comics, die man heute meist unter Graphic Novel kennt, und für viele junge Künstler die einzige Möglichkeit, zum ersten Mal ein Publikum zu erreichen.
Die 90er Jahre waren sehr dramatisch, aber die 2000er Jahre markierten eine bedeutende Veränderung. Während das Land mit der Hyperinflation kämpfte, verabschiedeten sich die Comics endgültig von den Zeitungskiosken und wanderten in die Regale der Buchhandlungen. Das hatte auch Vorteile: Zeichner mussten nicht mehr monatliche Deadlines einhalten und konnten sich im Buchformat umfangreicheren Geschichten widmen. Und das ist heute noch so – trotz der ewigen Schatten der Wirtschaftskrisen. Selbstfinanzierungsmechanismen und die Popularisierung digitaler Medien förderten die zunehmende Einbindung und Vielfalt neuer Künstler und damit auch die Zunahme der Leserschaft. Die aktuelle Lage der Comicbranche in Brasilien ist sehr vielversprechend, und der Markt entwickelt sich von Jahr zu Jahr weiter.
2020 hast du zum ersten Mal auch einen Roman veröffentlicht. Wie war es für dich als visueller Geschichtenerzähler, eine Story nur in Prosa zu verfassen?
„Deserama“ wurde als Roman geboren. Ich habe nur sehr wenig Kontrolle über meine Produktion, sodass ich weder bestimme, welchen Weg die Geschichten nehmen sollen, noch mich in die Entscheidungen der Figuren einmische. Ich glaube an die Fiktion als eine autonome Macht. Sie gibt die Prämissen vor, die jeder Geschichte den Weg ebnen, und bestimmt das Medium, in dem sie sich entwickeln wird. Bei „Desarama“ hat mich die Literatur von Anfang an dazu gezwungen.
Für mich ist der Comic nicht bloß eine Mischung aus Text- und Zeichenbausteinen. Der Comic hat seine ganz eigene Sprache – Sprechblasen, Panels usw. – und folgt seiner eigenen Linguistik. Insofern sind Prosa und Comicerzählungen sich nicht nur sehr ählich, für mich sind sie ein und dasselbe.
Du hast inzwischen in einer Vielzahl von Genres gearbeitet, in „Tungstenio“ erzählst du eine Crime-Story in einer fast filmischen Bildsprache, „Luzes de Nitterói“ ist eine nautische Abenteuergeschichte, „Talco de Vidro“ ein Charakterdrama in der brasilianischen oberen Mittelschicht. Wie wählst du deine Sujets und Geschichten aus?
Das ist völlig organisch. Ich habe kein besonderes Interesse daran, an bestimmten Genres zu arbeiten, und deshalb kann man mit jeder meiner Geschichten mehr als ein Genre verbinden. Alles wird von den Figuren bestimmt, von der Auseinandersetzung mit ihrem Charakter. Die Figuren sind die treibende Kraft des erzählerischen Getriebes und es sind ihre Handlungen, die die Geschichten vorantreiben. Darauf habe ich sehr wenig Einfluss.
Und welche treibende Kraft stand hinter „Hör nur, schöne Márcia“? Wie bist du auf die Geschichte gekommen?
„Hör nur, schöne Márcia“ ging der Wunsch voran, eine Geschichte über Mutterliebe zu schreiben, über eine Mutter, die eine äußerst schwierige Entscheidung treffen muss, um ihre Tochter zu retten. Eine Entscheidung, die ihr Selbstverständnis als Mutter untergräbt. Und viele Jahre lang habe ich an der Struktur der Geschichte gearbeitet. Vor allem wollte ich, dass die Figur eine solche Entscheidung erst nach einem inneren Wandel trifft, der durch den Kontakt mit einem Kunstwerk ermöglicht wird, in diesem Fall dem Lied „Escuta, formosa Márcia“, einem alten Modinha (lyrisches Volkslied mit starkem emotionalen und bukolischen Appell), denn ich glaube wirklich, dass Kunst die Fähigkeit hat, Leben zu verändern und uns mit dem intimsten Teil unserer Menschlichkeit in Kontakt zu bringen. Das Lied ist das Kernstück des Plots.
Im Mittelpunkt der Handlung steht die Beziehung zwischen Márcia und ihrer Tochter Jacqueline. Könntest du uns etwas über diese beiden Figuren und die Dynamik zwischen ihnen erzählen?
Die Geschichte basiert nicht auf einer bestimmten realen Begebenheit, obwohl Márcias Geschichte in einem Land wie Brasilien durchaus nichts Ungewöhnliches ist. Ich sehe Márcia nicht als starke Frau, wie ihr so oft nachgesagt wird, sondern als eine Frau, die nie die Möglichkeit hatte, ihre eigene Zerbrechlichkeit zu erfahren. Und ja, nicht nur meine eigene Mutter, sondern unzählige Frauen aus der Arbeiterklasse in Brasilien sind unter diesen Umständen aufgewachsen und zu den Menschen geworden, die sie jetzt sind. Für mich ist genau dieser Aspekt, die Möglichkeit, unsere eigene Zerbrechlichkeit zu erfahren, die einzige philosophische Erfahrung, die heutzutage wirklich zählt.
Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter ist wie ein Spiegel aufgebaut. Jaqueline ist das lebende Porträt ihrer Mutter, und ich wollte ein Gefühl des Unbehagens erzeugen, wenn die beiden interagieren, denn wir haben oft den Eindruck, dass Márcia mit sich selbst spricht, wenn sie sich mit Jaqueline streitet. Obwohl die beiden anfangs sehr unterschiedlich erscheinen, werden wir sehen, dass das vielleicht nicht ganz stimmt. Ich verurteile meine Figuren nie. Nicht einmal jemanden wie Jaqueline. Ich lasse ihnen die Freiheit, Entscheidungen zu treffen, die sie für notwendig halten, und mit den daraua resultierenden Konsequenzen zu leben.
„Hör nur, schöne Márcia“ ist keine klassische Krimi-Erzählung, aber sie ist sicherlich dem Krimi verwandt. Als Leser*in kriegt man das Gefühl vermittelt, dass Kriminalität ein Phänomen ist, das das Leben aller Menschen in Brasilien berührt. Márcia führt ein normales Leben als Krankenschwester und Mutter, aber es scheint für sie ziemlich normal zu sein, mit Bandenmitgliedern und anderen Kriminellen zu interagieren. Wie erlebst du die Auswirkungen der Kriminalität auf die brasilianische Gesellschaft, und wie bringst du dieses Thema in deinen Büchern zum Ausdruck?
Ja, das stimmt, allen meinen Geschichten haftet ein gewisser Krimi-/Polizei-Plot bzw. ein gewisser politischr Unterbau an. Die Fehlentscheidungen der Militärdiktatur wirken bis heute nach, vor allem in Bezug auf das Fehlen einer Sozialpolitik in dieser Zeit, die die Auswirkungen der Binnenmigration abgefedert hätte. Stattdessen kam es zu einer Überbevölkerung in den urbanen Zentren, die nicht darauf vorbereitet waren, den Überschuss an Menschen zu bewältigen, sowie zu politischen Repressionen durch die Instrumentalisierung der staatlichen Gewalt – vor allem der Polizei -, die schließlich als unerwünschte Nebenwirkung zu einer Professionalisierung der kriminellen Strukturen führten. Hinzu kommt die historische Unfähigkeit der folgenden Regierungen seit der Gründung der Republik im Jahr 1889, für so etwas wie soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Das Ergebnis konnte nichts anderes sein als ein sozialer Zerfall, mit dem wir tagtäglich zurechtkommen müssen.
Marcello Quintanilha: Hör nur, schöne Márcia • Aus dem Portugiesischen von Lea Hübner • Reprodukt, Berlin 2023 • 128 Seiten • Softcover • 24,00 Euro