Mosaik der Postkolonie

Die Abrafaxe geraten in die diplomatischen Verstrickungen zwischen Abbasidenreich, Byzanz und Frankenreich im 9. Jahrhundert.

Im Münchener Maximilianeum hängt ein großes Ölgemälde des Historienmalers Julius Köckert. Es trägt den Titel „Harun al-Raschid empfängt die Gesandtschaft Karls des Großen 786“ und bezieht sich auf die nachgewiesenen diplomatischen Kontakte zwischen dem Frankenkönig (und späteren Kaiser) und dem abbasidischen Kalifen zwischen dem ausgehenden achten und beginnenden neunten Jahrhundert. Die malerische Inszenesetzung dieser Begegnung durch Köckert ist extrem pathosgeladen und entspricht in keiner Weise den historischen Tatsachen, insbesondere die Machtverhältnisse zwischen Orient und Okzident im frühen Mittelalter werden hier im Sinne des zur Entstehungszeit des Gemäldes grassierenden deutschen Nationalismus verkehrt und verklärt.

In der seit Oktober 2021 erscheinenden Serie „Im Orient“ der Comiczeitschrift „Mosaik“ sind die – historisch verbürgten – fränkischen Gesandten Sigismund und Lantfrid keine Streitaxt schwingenden, flügelbehelmten Teutonen hoch zu Pferde, sondern gutmütige und ziemlich unbeholfen über das diplomatische Glatteis schlitternde Edelleute, die ihrem Auftrag, einen Kontakt zum Herrscherpalast in Bagdad herzustellen, mehr schlecht als recht nachkommen. Und das obwohl sie von ihrem Begleiter Isaak, einem jüdischen Kaufmann mit profunden Sprach- und Ortskenntnissen, tatkräftig unterstützt werden.

Die drei wahren Helden der Serie, Abrax, Brabax und Califax – kurz: die Abrafaxe, sind mittels Zeitsprung im Jahre 801 vor den Toren der Hauptstadt des Abbasidenreiches gelandet und schließen bald Bekanntschaft mit den genannten Diplomaten aus dem Abendland. In einer mosaiktypischen Tour de Force werden sie nicht nur in die Auseinandersetzungen zwischen den fränkischen Gesandten und ihrem byzantinischen Gegenspieler Euphemios hineingezogen, der die Anbahnung diplomatischer Beziehungen zwischen Frankenreich und Kalifat unbedingt verhindern will. Sie geraten außerdem schnell in Konflikt mit der Anführerin einer Diebesgilde, die es von da an auf die Abrafaxe abgesehen hat. Bekanntschaft schließen sie auch mit Dschaffar, dem Wesir des Kalifen, und schließlich auch mit Harun Al-Raschid höchstpersönlich, der sich hin und wieder verkleidet aus seinem Palast schleicht und unter die Leute mischt.

Bagdad im Jahre 801: Häuserschluchten und enge Gassen; © Mosaik Steinchen für Steinchen Verlag 2021-2023

In der aktuellen „Mosaik“-Serie werden einmal mehr historische Fakten mit Mythen und Märchen (so ungefähr) aus der Zeit der Handlung verbunden. Unvermeidlich sind hierbei die zahlreich aufgegriffenen Motive aus „Tausendundeine Nacht“: Schon auf der Titelseite der ersten Ausgabe, welche die Serie einleitet, sitzen die Abrafaxe auf einem fliegenden Teppich, ganz so als wären sie mit diesem ins mittelalterliche Bagdad gelangt. Auch die Diebesgilde und ihre Anführerin, die Bagdad samt Palast unsicher machen, nehmen Anleihe aus der Sammlung morgenländischer Erzählungen, genauso wie die Figur des Kalifen Harun Al-Raschid selbst. Gilt dieser in der arabischen Geschichtsschreibung aufgrund seiner knallharten Machtpolitik als mindestens sehr ambivalenter Charakter, ist „Der Rechtgeleitete“ als märchenhafter Kalif von ganz anderem Naturell. In der hier besprochenen Serie bewegt sich die Al-Raschids Persönlichkeit irgendwo zwischen diesen beiden Polen.

Im Verlauf der Geschichte schließen die Abrafaxe mit einer weiteren Figur mit mythologischem Hintergrund Bekanntschaft. Die fränkische Gesandtschaft hat Bagdad mit einem Geschenk des Kalifen, den indischen Elefanten Abul Abbas, verlassen und befindet sich zusammen mit den Abrafaxen auf den Rückweg zur kaiserlichen Pfalz in Aachen. Als sie dabei die Grenze zwischen dem Abbasidenreich und Byzanz überqueren, werden sie von dem Wächter der Grenze, der sie fälschlicherweise der Hehlerei verdächtigt, in Gewahrsam genommen und dem ansässigen Emir übergeben. Es handelt sich bei dem Grenzwächter um den im byzantinischen Versepos Digenis Akritas besungenen gleichnamigen bärenstarken Helden. Das Epos ist so etwas wie der Ursprungsmythos der sogenannten Akriten, die zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert die byzantinische Grenzwache stellten.

Das byzantinisch-abbasidische Grenzgebiet; © Mosaik Steinchen für Steinchen Verlag 2021-2023

Der interessanteste Aspekt ist die auch im „Mosaik“ angedeutete Herkunftsgeschichte des Digenis. Er ist der Sohn eines zum Christentum konvertierten ehemaligen persischen Emirs, der sich mit seiner Familie nach Byzanz abgesetzt hat. Sein Job ist nicht einfach die militärische Sicherung der Grenze, sondern die Wahrung des Friedens und die Aufrechterhaltung guter Beziehungen zum benachbarten Kalifat. So erweist sich die Grenze hier nicht als „Eiserner Vorhang“, sondern vielmehr als „Contact zone“ zwischen christlichem Abendland und islamischem Morgenland, in der bei aller Konflikthaftigkeit auch kulturelle Verflechtungen und Vermischungen stattfinden. Kurzzeitig ganz zum Leidwesen der Abrafaxe, zumindest bis sich das oben erwähnte Missverständnis schnell wieder aufgeklärt hat.

Ganz unter diesem Vorzeichen steht auch eine andere Episode, in der Brabax – der intellektuell bewandertste und wissbegierigste der drei Abrafaxe – in Bagdad eine Bibliothek besucht, in der arabische Schriftgelehrte die antiken Klassiker ins Arabische übersetzen. Der erstaunte Brabax steht vor den sich in unzähligen Gängen meterhoch auftürmenden Regalen, die gefüllt sind mit den Originalmanuskripten und Abschriften der griechischen Universalgelehrten. Als würde ihm schlagartig klarwerden, wie sehr das Abendland es der islamischen Welt verdankt, dass das antike Wissen das „dunkle Mittelalter“ in Europa überhaupt überdauern konnte. Dass die Araber das europäische (sowie persische und indische) Wissen nicht einfach tradierten, sondern durchaus weiterentwickelten – insbesondere im Bereich der Medizin und der Mathematik – kann man auf den Wissensseiten nachlesen, die sich im Innenteil der „Mosaik“-Hefte befinden.

Da wie gesagt der Elefant Abul Abbas – als Teil des diplomatischen Gabentauschs zwischen Karl dem Großen und Harun al-Raschids – noch einen großen Teil der Wegstrecke zwischen Bagdad und Aachen zurückzulegen hat und die Abrafaxe aller Voraussicht nach diesen Weg bis zum Ende mitgehen werden, ist ein baldiges Ende der Orientserie so schnell nicht zu erwarten. Ein Einsteigen in die Serie lohnt sich.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 23.07.2023 auf: Taz-[ˈkɒmik_blɔg]

Mario Zehe (*1978) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Lehrer für Geschichte, Politik & Wirtschaft an einer Freinet-Schule bei Quedlinburg (Harz). Seit vielen Jahren liest er Comics aller Art, redet und schreibt gern darüber, u. a. im [ˈkɒmik_blɔg] der Taz und für den Freitag.