In der Netflix-Adaption von Jeff Lemires Comicserie geht es um Politische Ökologie am Ende des Menschenzeitalters.
Waren es im Zeitalter der vermeintlichen Gewissheiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch apokalyptische Szenarien, die in Film und Literatur den Karneval des Infernos abfeierten und mit der Lust am Weltuntergang spielten, so dominieren gegenwärtig eher Erzählungen über die Menschen, die sich in den Trümmern einer bereits untergegangenen Welt einrichten müssen. Im Angesicht von Klimawandel, Pandemie, Krieg und nicht zuletzt der unheimlichen Wiederauferstehung des Faschismus ist das Gemälde eines zivilisatorischen Untergangs eine leider allzu mögliche Beschreibung einer näheren Zukunft.
Was Fiktion und Dichtung in einer solch von Zukunftsangst und Pessimismus getragenen gesellschaftlichen Grundstimmung noch am ehesten vermögen, ist die Frage der Möglichkeit eines Zusammenbruchs als erledigt zu betrachten und sich dem Danach zu widmen: Zur notwendigen Bedingung einer postapokalyptischen Erzählung gehören freilich die Überlebenden. Doch wie viele sind es? Und wie werden sie mit der Situation fertig? Werden sie zusammenarbeiten und zu einer neuen gesellschaftlichen Ordnung finden oder im Krieg aller gegen alle auch noch den letzten Rest menschlicher Würde verlieren?
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts traf daher die Postapokalypse „The Walking Dead“ von Comic- und Drehbuchautor Robert Kirkman den Nerv der Zeit. Eine Gruppe von Menschen kämpft darin in einer von Zombies bevölkerten Welt ums nackte Überleben. Es geht um die Wiederherstellung von Ordnung im Zustand einer totalen Anomie, um Macht und Herrschaft, aber auch – angesichts der zahlreichen „lebenden“ Toten – um die Frage, was den Menschen eigentlich als solchen ausmacht. In Kirkmans später auch sehr erfolgreich filmisch adaptierten Comicserie war es ein nicht näher bestimmtes Virus, das den Großteil der Menschen dahinraffen und zu Zombies werden lässt, welche die bislang Überlebenden terrorisieren. Aber auch in Jeff Lemires „Sweet Tooth“, als Comicserie zwischen 2009 und 2013 erschienen und ausgerechnet mitten in der Coronapandemie von Netflix als Realfilmadaption veröffentlicht (die finale Staffel ging diesen Juni online), spielt ein extrem bedrohliches Virus eine entscheidende Rolle.
Die Erzählung handelt von dem jungen Hirsch-Mensch-Hybriden Gus, der bis zum Tod seines Vaters am besagten Virus (“H5G9”) in einer abgelegenen Waldhütte aufwuchs und nun aufbricht, um seine Mutter zu finden und die Umstände seiner Herkunft zu verstehen. Der Großteil der Weltbevölkerung ist da schon aufgrund des weltweiten Virusausbruchs dahingerafft worden, die Überlebenden suchen nun nach Mitteln und Wegen, der Pandemie Herr zu werden. Zum selben Zeitpunkt werden ausschließlich Babys geboren, die teils menschliche, teils tierische Eigenschaften haben und als Hybride bezeichnet werden. Offensichtlich sind sie selbst gegenüber der Seuche immun, und die meisten Menschen sehen in ihnen die Überträger oder gar die Ursache der Pandemie.
Gus’ Aufbruch in die Welt der Menschen steht also unter eher ungünstigen Vorzeichen, und so ist es sicher nicht von Nachteil, dass sich ein umherstreifender ehemaliger Footballspieler seiner annimmt. In der Folge trifft der Hirsch-Mensch-Junge auf solche Menschen, die Hybride entweder ausrotten oder als Versuchstiere missbrauchen wollen, aber immer wieder auch auf solche, die den „Mischlingen“ Hilfe und Schutz bieten, teils auch mit radikalen Mitteln. Die lange Reise, die Gus und seine immer größer werdende Gruppe von Mitstreiter*innen – Hybride als auch Menschen – schließlich bis nach Alaska führt, ist geprägt von vielen Gefahren, Konflikten und Kämpfen. Schließlich wird klar, dass die Suche nach seiner Mutter, einer Naturwissenschaftlerin, die irgendwie in Verbindung mit dem Ausbruch der Pandemie steht, auch die Möglichkeit eröffnet, ein Mittel gegen die extrem tödliche Seuche zu finden.
Jeff Lemire ist ein begnadeter Comicszenarist, vielleicht sogar der derzeit beste, doch seine Entscheidung, die Serie auch selbst zu zeichnen, ist aufgrund seiner in dieser Beziehung eher begrenzten Möglichkeiten sicher nicht die glücklichste gewesen. Daher schien die Verfilmung des Stoffes eine gute Gelegenheit zu sein, die Schwäche des Comic wettzumachen und für die zweifellos famose Geschichte angemessene Bilderwelten zu entwerfen. Nach dem Anlaufen der ersten Staffel stellte sich jedoch die Frage, ob der von Netflix gewählte Ansatz der richtige war. In Lemires Originalversion war der Ansatz der Erzählung radikal, ging es doch schließlich um die Infragestellung einer anthropozentrisch geprägten Sichtweise auf unseren Planeten samt all seinen Bewohnern und um eine Neuauslotung des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur. Der Netflix-Adaption schien dagegen eine eher liberale Botschaft zugrunde zu liegen, es ging zunächst um Differenz und Toleranz: Eine faschistoide Gruppierung namens „Last Men“, die in den offensichtlich andersartigen Hybriden die Ursache allen Übels sieht, jagt und tötet bzw. interniert diese zu Versuchszwecken. Auf der anderen Seite steht die „Animal Army“, so etwas wie eine militante Version der Tierrechtsaktivisten von PETA, die mit Waffengewalt Hybriden befreit und die Last Men verfolgt und bekämpft. Dazwischen bewegen sich Figuren wie der gleichermaßen traumatisierte wie skrupellose Wissenschaftler Dr. Singh oder Aimee, die in einem verlassenen Zoo Hybridenkindern eine Zuflucht bietet.
Spätestens ab der dritten Staffel tritt das Toleranzparadigma dann in den Hintergrund, und in „Sweet Tooth“ entfaltet sich doch noch eine Art politischer Ökologie, in der die (selbst-)zerstörerischen Eingriffe der Menschheit in das über Jahrmillionen gewebte „web of life“ auf den Punkt gebracht werden. (Auch die Ursprünge von Pandemien rühren bekanntlich daher.) Zu diesem späten Zeitpunkt in der Serie sind Hybriden zudem nicht mehr nur über Kindchenschemata stilisierte Sympathieträger, sondern kommen struppiger und ambivalenter daher. Am Ende trifft Gus schließlich auf seine Mutter, doch – der Spoiler sei erlaubt – es gibt kein rechtes Happy End, das alle vermeintlichen und realen Gegensätze noch miteinander versöhnen mag. Den Menschen ist nicht mehr zu helfen, die Zukunft gehört den Hybriden.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 08.07.2024 auf: Taz-[ˈkɒmik_blɔg]
Sweet Tooth
USA 2021-2024 (3 Staffeln)
R: Toa Fraser, Jim Mickle, Robyn Grace, Carol Banker u. a. – B: Jim Mickle, Beth Schwartz, Christina Ham u. a. – K: Aaron Morton, Rob Marsh, Dave Garbett u. a. – M: Jeff Grace – S: Michael Berenbaum, Shawn Paper, David Bilow u. a. – D: Christian Convery, Nonso Anozie, Dania Ramirez, Stefania LaVie Owen, Adeel Akhtar u. a.
Mario Zehe (*1978) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Lehrer für Geschichte, Politik & Wirtschaft an einer Freinet-Schule bei Quedlinburg (Harz). Seit vielen Jahren liest er Comics aller Art, redet und schreibt gern darüber, u. a. im [ˈkɒmik_blɔg] der Taz und für den Freitag.
Sämtliche Abb. © Netflix