Revolverheld mit Angstschweiß

Eine verfluchte Mine und viele Verbeugungen vor den frühen Pulps: Scott Snyders Horror-Western „Canary“.

Westmänner kennen keine Angst. Aber selbst Marshal William Holt, harter Hund und Held diverser Groschenromane, die seine Abenteuer publikumswirksam auswalzen, staunt nicht schlecht, als er mit dem jungen Johnny Apple konfrontiert wird, der seine Lehrerin bestialisch massakriert hat und besessen scheint, bis Holt die Sache handgreiflich regelt. Holts Auftraggeber Crenshaw teilt seinem Schützling zudem mit, dass Apple keinesfalls ein Einzelfall ist: Überall im Lande ereignen sich Morde, deren Tatorte durch Flüsse verbunden sind, die alle unterirdisch an einem Ort zusammenlaufen: unterhalb des Nestes Canary, wo Holt neun Jahre zuvor den durchgedrehten Attentäter Hyrum Tell zur Strecke brachte. Mehr als widerwillig macht sich Holt ein letztes Mal auf in Richtung Canary, wo er gemeinsam mit dem Geologen Edison Edwards die gleichnamige Mine untersuchen soll. Die war ebenfalls Jahre zuvor eingestürzt und hatte zahlreiche Arbeiter sowie den Chef Chester Warren unter sich begraben.

Vor Ort trifft Holt auf Chesters Tochter Mabel, die ihren Vater als religiös wahnhaften Egomanen beschreibt, der davon besessen war, die tiefste Mine der Welt zu schaffen, weil er dort unten übernatürlich Mächte vermutete. Als Edwards ein Aufzeichnungsgerät für Schallwellen in die Mine hinunterlässt, greift das blanke Grauen um sich. Das Gerät spielt deutlich vernehmbar die Worte „Helft uns! Wir sind immer noch hier unten!“ ab.

Buffalo Bill goes Stephen King! Batman- und Horror-Spezialist Scott Snyder (u. a. „Batman: Der letzte Ritter auf Erden“, „Night of the Ghoul“) verbindet in diesem One Shot geschickt das kulturhistorische Phänomen des durch Groschenromane hochgejubelten Westernhelden mit handfestem Horror der eher harten Schule. William „Buffalo“ Cody trug durch die teilweise von ihm lancierten Trivialromane und auch die Zirkus-Western-Show, die ihn gemeinsam mit Sitting Bull durch die Städte des jungen Amerika führte, zur Kreation der Legende des tapferen Westeners bei, zahllose Leinwand-Western verklärten die eigentlich ganz und gar nicht glamouröse Geschichte der Eroberung des Westens: Lasso-Kunststücke, Revolverhelden, die schneller ziehen als ihr Schatten, der Sprung auf die rasende Postkutsche, das alles stammte weniger aus der Realität denn aus den Seiten der Romane, die Bills Abenteuer überhöht verwursteten.

Snyder versucht sich indes nicht in Kultur- und Medienkritik, sondern liefert einen Lobgesang auf die Macht der Fiktion: Im feurigen Finale stellt Edison fest, die Abenteuer eines Helden wie Holt seien wichtig, um ihnen nachzueifern, denn „durch diese Abenteuer vergessen wir, wie die Welt ist, und sehen sie, wie wir sie uns wünschen“. Auch Crenshaw ist sich der durchschlagenden Wirkung dieser Art von Pulp Fiction bewusst, was ein Zentralthema von Snyders Meta-Kino-Horror-Epos „Night of the Ghoul“ aufgreift: „Noch ist es ein Groschenroman. Bitte mach keine Horrorgeschichte daraus. Glaub mir, die Folgen würden dir nicht gefallen“. Und so verhindert Holt durch sein Eingreifen ohne Rücksicht auf Leib und Leben, dass der wahre Horror jemals bekannt wird – wodurch er seine Aufgabe als Held gleich mehrfach erfüllt. Dass er selbst mit nicht genutztem Vornamen Azrael – nach dem gefallenen Todesengel – heißt, verleiht dem Geschehen zusätzlich Gravitas. Zeichnerisch zieht Dan Panosian alle Register und inszeniert die gräulichen Szenen oftmals großformatig und mit schmackiger Farbgebung. Ein wohlig schauriger Leckerbissen für alle Freunde des gepflegten Grusels – und der Reflektion über das Medium Comic und Roman.

Dieser Text erschien zuerst auf Comicleser.de.

Scott Snyder (Autor), Dan Panosian (Zeichner): Canary • Aus dem amerikanischen Englisch von Katrin Aust • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 160 Seiten • Hardcover • 25,00 Euro

Holger Bachmann ist Autor diverser Bücher und Aufsätze zur Film- und Literaturgeschichte. Neben Comicleser.de schreibt er auf kühleszeug.de über Konzerte und geistvolle Getränke.