Der französische Comickünstler Luz ist in seiner Heimat ein Star. Aktuell ist seine Graphic Novel „Zwei weibliche Halbakte“ erschienen, in der er die Geschichte des gleichnamigen Bildes von Otto Mueller erzählt – und damit auch die Geschichte der Kunstverfolgung unter den Nationalsozialisten.
Luz erzählt die Geschichte des Bildes von den ersten Strichen seiner Entstehung – und konsequent aus der Perspektive des Bildes selbst. Die Leser*innen können verfolgen, wie Otto Mueller die Umrisse der beiden weiblichen Halbakte auf die Leinwand malt, wie die Frisuren, Gesichter und Körper Kontur annehmen, aber es sind nicht die schwarzen Striche des Otto Mueller, die Luz nachzeichnet. Vielmehr wird mit jedem Strich die Szenerie des Malens freigelegt – Otto Mueller, wie er mit einer Pfeife im Mund und Pinsel in der Hand im Wald steht und malt. Sein Modell, das neugierig um die Ecke guckt. Dann ist das Bild fertig, und die Fahrradfahrt durch Berlin ist in verruckelten Bildern zu sehen. Am Ende des Tages wird das Bild ins Atelier auf den Boden gestellt, und das ist die Perspektive, aus der erst mal weitererzählt wird.
Luz zeichnet das Berliner Leben der 1920er Jahre mit derben Strichen, die an die Millieustudien eines Zille erinnern. Die Straßen sind voll von dem Getümmel unterschiedlichster Menschen, und sein Modell Maschka, das auch seine Ehefrau war, ist anders als auf dem Gemälde drall und voller Vitalität. Überhaupt sehen die Figuren oft wie Karikaturen aus. Ein Galerist aus Breslau, der Otto Mueller überredet, eine Professur in Breslau anzunehmen, sieht aus, als wäre er dem Musical Cabaret entsprungen, und die Nationalsozialisten haben eine zackige Physiognomie und tragen Ledermäntel. Bei all den Stationen, die das Bild durchläuft, von der Entstehung im Wald über das Atelier in Berlin, den Umzug nach Breslau und dann schließlich der Verkauf an den jüdischen Breslauer Anwalt und Kunstsammler Ismar Littmann, ist nie das Gemälde zu sehen, sondern immer das, was gegenüber dem Bild stattfindet.
Luz erzählt von der Machtübername der Nationalsozialisten auf zwei Ebenen: Auf der Bildebene werden im Hintergrund, draußen vor dem Fenster des Büros von Ismar Littmann, immer mehr nationalsozialistische Symbole sichtbar. Ein Plakat von Bismarck wird gegen eins von Hitler getauscht, immer mehr Hakenkreuze sind zu sehen und prügelnde Banden mit Hakenkreuzbinden. In den Gesprächen der Familie erfahren wir, wie diese immer mehr verarmt, weil Ismar Littmann nicht mehr als Anwalt arbeiten darf. Wie die Sammlung immer weniger wert ist, weil sie vor allem aus Arbeiten besteht, die die Nazis als entartet diskreditieren. Und dann, wie immer mehr Menschen deportiert werden. Ismar Littmann wird deshalb Selbstmord begehen – allerdings nicht ohne vorher die Versteigerung seiner Sammlung in Berlin zu organisieren, damit seine Familie emigrieren kann. Der Maler Otto Mueller ist zu diesem Zeitpunkt schon an den Folgen einer Tuberkulose verstorben.
Die Freiheit der Kunst ist ein Lebensthema von Luz, seit er Zeichner des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo geworden ist. Und noch viel mehr, nachdem er vor 10 Jahren den islamistischen Anschlag auf Charlie Hebdo überlebt hat. Vermutlich auch deshalb erzählt er nicht nur von dem persönlichen Schicksal der Littmanns, sondern auch, wie die Nationalsozialisten systematisch die freie Kunst verfolgten – und am Ende auch noch mit der Versteigerung der Werke Geld daraus geschlagen haben. Denn als Littmanns Sammlung nach Berlin zur Versteigerung kommt, wird ein großer Teil als entartet beschlagnahmt. Das Bild „Zwei weibliche Halbakte“ und damit die Leser*innen werden Zeugen, wie der Direktor der Nationalgalerie abgesetzt wird, weil er nicht rüde genug gegen die als entartet deklarierte Kunst vorgeht. Adolf Ziegler dagegen, ein Maler und vor allem ein konformer NS-Funktionar, steigt auf und organisiert die berühmte Münchner Ausstellung „Entartete Kunst“.
Das Gemälde „Zwei weibliche Halbakte“ ist Teil dieser Ausstellung, und die Kommentare, die Politprominenz und Publikum dazu finden, zeigen, wie aktuell die Diskussion um Kunstfreiheit ist. Die Künstler würden ihr Publikum verhöhnen. Sie würden zu wenig an die Tradition der großen Meister deutscher Kunst anknüpfen. Und vor allem sei die Förderung so einer Kunst eine ungeheure Geldverschwendung. Mit seinem Comic „Zwei weibliche Halbakte“ macht Luz das System der Kunstverfolgung im Nationalsozialismus sichtbar – und die persönlichen Konsequenzen für Kunstliebhaber. Es ist ein großartiger Bildungscomic, der von einem System der Unterdrückung erzählt – aber auch von der Kraft der Kunst.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 02.05.2025 auf: radio3 rbb
Luz: Zwei weibliche Halbakte • Aus dem Französischen von Lilian Pithan • Reprodukt, Berlin 2025 • Hardcover • 192 Seiten • 29 Euro
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.