Der Mensch, das Monster

Arktis, frühes 19. Jahrhundert: Der Forscher Walton ist von der Idee besessen, eine Passage durch das Packeis zu finden und riskiert dabei Leib und Leben seiner Crew. Er staunt nicht schlecht, als ihm in der Einöde erst ein schemenhafter Hüne und dann ein ausgemergelter Mann über den Weg laufen, der den Unhold offenbar verfolgt. Zwischen Fieberanfällen und Bewusstlosigkeit enthüllt ihm und uns der schwer angeschlagene Victor Frankenstein seine Geschichte.

Sein fliehendes Geschöpf stößt derweil auf einen wilden Mob und kann in den Wald entkommt. Dort löst es weiter Entsetzen aus, bis es im Stall einer Hütte Zuflucht findet, wo eine bitterarme Familie ihr karges Dasein fristet. Über Monate hinweg hilft der „gute Geist des Waldes“ im Verborgenen bei der Schwerstarbeit und lernt durch Zuhören und Nachahmen langsam Sprache und sogar Lesen. Als das Wesen das Tagebuch Frankensteins findet, erschließt sich ihm die ganze Wahrheit: Sein Vater hat sich abgewendet, unter den Menschen erzeugt es Verachtung. Und so schwört es Rache an seinem verantwortungslosen Schöpfer.

Bereits mit „Dracula“ legte der französische Comickünstler Georges Bess eine kongeniale Adaption eines epochemachenden Schauerromans vor, deren viktorianisch anmutende Aufmachung in Großformat mit Goldprägung edlen Charme versprüht. Nun kredenzt uns Bess in ähnlicher Manier seine Version von Mary Shelleys 1816 veröffentlichten „Frankenstein“-Roman, der mit Fug und Recht als Mutter aller Gruselgeschichten um Kreaturen, Mad Scientists und Fraglichkeit des ungezügelten Forscherdrangs gelten darf. Bess überträgt die Geschichte erneut in kraftvolle Tuschezeichnungen, bedient sich auf der Textebene weidlich aus der Romanvorlage, präsentiert alle zentralen Elemente und nimmt sich dabei auch immer wieder einige Freiheiten.

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Die zentralen Problemstellungen des Romans – Ethik einer Forschung ohne Grenzen, menschliche Hybris, das Faszinosum der langsam erblühenden Naturwissenschaften – bleiben erhalten, ebenso die psychologischen Aspekte der Identitätsstiftung, das Doppelgänger-Motiv (der stets abweisende und abwesende Vater gibt seinem Kind keinen Namen und geht dann unweigerlich gemeinsam mit ihm unter) und die im literarisch-geistesgeschichtlichen Sinne romantische Idee des Erhabenen in der Natur (gleichzeitig grausig und faszinierend, nicht umsonst lösten Marys Ehegatte Percy Shelley und Kollege Lord Byron mit ihren Gedichten über die Alpen den ersten Tourismus-Schub dorthin aus).

All das setzt Bess optisch wunderbar in atmosphärischen, großformatigen monochromen Zeichnungen des ewigen Eises, des Waldes und der Landschaften um. Zugleich und durchaus elegant berücksichtigt er Elemente des Frankenstein-Mythos, die im ursprünglichen Roman gar nicht enthalten sind: Die Schöpfungsszene, bei Shelley eher randständig und durch „finstere Künste“ erklärt, erscheint bei Bess in voller Universal-Horror-Elektro-Gewitter-Szenerie – Bildzitate der James-Whale-Verfilmung von 1931. Gleiches gilt für die Figur des buckligen Assistenten, der in diversen Filmversionen seine Dienste verrichtet, bei Shelley allerdings nicht vorkommt.

Viel Raum überlässt Bess, im Gegensatz zu den meisten Adaptionen, der Perspektive des Geschöpfes, das in seiner Entwicklung vom sprichwörtlich unbeschriebenen Blatt zum bitter enttäuschten Racheengel (auf diesem Weg liest es Schlüsselwerke wie John Miltons „Paradise Lost“ und Goethes „Leiden des jungen Werther“, die für sein eigenes Schicksal symbolisch stehen) das philosophische Tabula-rasa-Konzept repräsentiert, demzufolge der Mensch stets das Ergebnis der Prägungen seiner Umwelt sei. Hierbei schließt Bess auch eher wacklige Handlungselemente der jungen Autorin mit ein, etwa die Figur der türkischen Kaufmannstochter Safie, die ihren Geliebten in der Waldeshütte aufsucht. Die Kombination aus eigens gesetzten Akzenten und fulminanter grafischer Umsetzung ist ein weiterer Triumphzug für Georges Bess, der sich bitte weiteren ähnlichen Projekten widmen sollte. Da wäre zum Beispiel noch der seltsame Fall eines gewissen Dr. Jekyll…

Dieser Text erschien zuerst auf Comicleser.de.

Holger Bachmann ist Autor diverser Bücher und Aufsätze zur Film- und Literaturgeschichte. Neben Comicleser.de schreibt er auf kühleszeug.de über Konzerte und geistvolle Getränke.

Georges Bess: „Frankenstein“. Aus dem Französischen von Harald Sachse. Splitter Verlag, Bielefeld 2022. 208 Seiten. 39,80 Euro