Nur zwei Mal, in „Ein Indianischer Sommer“ und „El Gaucho“, haben die beiden berühmten italienischen Comickünstler Hugo Pratt und Milo Manara zusammengearbeitet. Nun ist „El Gaucho“ im Rahmen der Manara-Alben-Werkausgabe im Splitter Verlag erschienen.
Hier ist, um die historischen Hintergründe des Plots zu verstehen, ein kurzer Blick in die Geschichte vonnöten: Im Jahr 1806 setzte das britische Empire auf Expansion. Man hatte gerade die Seeschlacht von Trafalgar gewonnen, Spanien dort empfindlich geschlagen. Außerdem wurde die Kapkolonie im heutigen Südafrika erobert. In Nordamerika hatte man zwar die Kolonien der neuen Welt verloren, weshalb sich der Fokus nun auf Südamerika richtete, genauer gesagt auf das zu Spanien gehörende Vizekönigreich Rio de la Plata mit der Hauptstadt Buenos Aires. Tatsächlich gelang es den Briten, die Stadt kurzzeitig zu besetzen, da die spanische Unterstützung aus dem Mutterland ausblieb und die geknechtete Bevölkerung in den neuen Besatzern vielleicht auch eine neue Chance auf Freiheit sah.
Der Soldat Tom Browne, Hauptfigur in Pratts und Manaras Epos „El Gaucho“, gehört zur britischen Invasionsflotte, die im Juni 1806 im Rio de la Plata ankert. Er schiebt auf der Corvette „Encounter“ Dienst, wo sich die höheren Offiziere mit irischen Prostituierten vergnügen. Zu den Frauen gehört auch die frühere Fischhändlerin Molly Malone, die sich zu Tom hingezogen fühlt. Als es gilt, an Land einen verbündeten potenziellen Revoluzzer zu treffen, meldet sich Tom freiwillig, bleibt dann dort aber als Faustpfand zurück. An Bord der „Encounter“ wird es für Molly und den buckligen Matrosen Matthew gefährlich, nachdem sie einen Vergewaltiger, einen Offizier, töten und beschließen zu fliehen.

Nach „Ein Indianischer Sommer“ (im September bei Splitter) stellt „El Gaucho“ die zweite und letzte Zusammenarbeit von „Corto Maltese“-Schöpfer Hugo Pratt mit Milo Manara dar – übrigens die einzigen beiden Geschichten, die Pratt jemals für einen fremden Zeichner schrieb. „El Gaucho“ debütierte 1991 im italienischen Comicmagazin „Il Grifo“ und erschien bei uns erstmals 1994 als Album im Carlsen Verlag, dann 2010 als Band 5 der Manara-Werkausgabe bei Panini. Nun legt der Splitter Verlag den Band im Rahmen seiner umfangreichen Manara-Alben-Werkausgabe erneut auf, in gewohnt hochwertiger Aufmachung, mit zahlreichen Skizzen und Entwürfen von Pratt, Illustrationen von Manara und einem Kunstdruck.
Pratt lebte ab 1949 für zehn Jahre in Buenos Aires, vielleicht ein Grund, warum er dieses ungewöhnliche, nicht sonderlich bekannte historische Setting wählte. Als Kniff lässt er die Geschichte von einem hundertjährigen Tom Browne rückblickend erzählen. Und mit Molly Malone borgte er sich eine Figur aus dem gleichnamigen berühmten irischen Volkslied (das auch in Stanley Kubricks „A Clockwork Orange“ von dem betrunkenen Obdachlosen gesungen wird, bevor ihn Alex‘ Gang verprügelt). Doch inmitten all der politischen Pläne samt Einblick in konkurrierende Freimaurerlogen spielen Tom und Molly gelegentlich nur Nebenrollen. Tom ist erst Geisel, dann Gefangener, während Molly gemeinsam mit Matthew und dem brutalen Clagg ihr Heil in der Flucht sucht, um an Land (vergeblich) auf ein besseres Leben zu hoffen.
Vergleicht man die beiden Pratt/Manara-Kollaborationen, erscheint „El Gaucho“ weniger geradlinig als der Vorgänger „Ein Indianischer Sommer“, was an Story und historischem Backround, nicht aber an den Zeichnungen Milo Manaras festzumachen ist. Der Italiener glänzt hier mit realistischen, detailreichen Darstellungen der Schiffe und atmosphärischen Naturszenerien. Seitenlang verzichtet er ganz auf Text, besonders eindrucksvoll ist die epischen Sequenz der Einnahme von Buenos Aires geraten. Indes: Kein Manara ohne Erotik – auch hier gibt es einige dezent eingesetzte Szenen, die jedoch nicht das Gesicht der Gesamterzählung bestimmen. Und Mollys trauriges Ende ist weitaus bedrückender als in dem Volkslied.
Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de
Hugo Pratt (Autor), Milo Manara (Zeichner): El Gaucho • Aus dem Italienischen von Michael Leimer • Splitter Verlag, Bielefeld 2025 • Hardcover • 160 Seiten • 35 Euro
Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.

