Kontingenz und Ironie

Obwohl er selten in seinen schwarz-weißen, mit der sogenannten „Schabkartontechnik“ meisterhaft ausgeführten Comics oder Bilderbüchern oder Cartoons durchgehende, konsistente Geschichten erzählt, scheint mir graphic novel der sinnvollste Begriff für seine Arbeit zu sein – auch „dekonstruierte“ gezeichnete „Romane“ sind letztlich doch wieder welche.

Thomas Ott: „The Number 73304-23-4153-6-96-8“.
Edition Moderne, Zürich. 3. Auflage, 2016. 144 Seiten. 29 Euro

Ohne ein einziges Wort und diesmal sehr wohl eine „konventionelle“ Geschichte erzählend, ist „The Number 73304-23-4153-6-96-8“ ein wahrlich beklemmend grusliges Werk. Ein Henker findet nach der Exekution eines Delinquenten auf dem elektrischen Stuhl einen Papierstreifen mit einer langen Zahl. Jede Ziffernkombination scheint eine Bedeutung zu haben – eine positive Bedeutung und eine negative Bedeutung. Oder nur eine erst positive Konsequenz, dann eine unausweichlich negative? Zunächst geht es dem Henker plötzlich erstaunlich gut: Ziffern führen ihn – via der Tätowierung im Ohr eines Köters – zu einer Frau, zum Glück in der Liebe, zum Glück im Spiel. Dann verliert er unmittelbar wieder alles, alles ist rückläufig, womöglich fällt er aus der Zeit. Die Zahlenkombinationen führen ihn zu Wahnsinn und Mord und dann in dieselbe Todeszelle, in der wir schon den ersten Delinquenten in exakt der gleichen Darstellung kennengelernt haben. Kalte Kausalität, Determinismus, unausweichliches Schicksal, Zahlenmystik, Auslegung, fixe Idee: und das Ganze als Ergebnis von schierer Kontingenz, als Gespinst, als Irrsinn, als selffulfilling prophecy.

Und alles grandios in Bilder übersetzt. Allein der Gesichtsausdruck unseres Helden, wenn er den Papierstreifen studiert, der uns als Vignette vom Umschlag des wunderbar gemachten Buches anstiert, ist der reine Horror. Der blanke Wahnsinn springt uns an, wenn der am Ende zum Tode Verurteilte noch die Pommes-Frites-Stäbchen seiner Henkersmahlzeit zu einem (Zahlen-)Sinn zwingen möchte und sie stramm nebeneinander legt… Ott hat nämlich nicht nur einen entschieden düsteren Blick auf diese Welt, sondern auch einen entschieden komischen. Vermutlich, weil Kontingenz und Ironie, wie wir nicht erst seit Richard Rorty wissen, eng zusammenhängen. Und Tragik und Komik sowieso.

Thomas Ott, wie gesagt, ist ein ganz Großer der graphic arts. Solche Kunstformen sollten wir auch nicht aus dem Bewusstsein rutschen lassen, wenn es um die verschiedenen Materialisationen von crime fiction geht.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 03.05.2008 auf: CulturMag

Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Mitglied der Jury des „Weltempfängers“ und anderer Jurys. Er gibt zurzeit das Online-Feuilleton CULTURMAG/CrimeMag und ein eigenes Krimi-Programm bei Suhrkamp heraus. Lebt und arbeitet in Berlin.

Seite aus „The Number 73304-23-4153-6-96-8“ (Edition Moderne)