„Kartographie“ von Sike ist ein philosophischer Comic-Essay, der die Schnittmenge von Individuum und Stadtentwicklung am Beispiel von Buenos Aires untersucht.
Der Titel einer Studie des US-amerikanischen Soziologen Richard Sennett über die Rolle des Körpers für die Entwicklung von Städten spricht Bände: „Fleisch und Stein“ ist eine Geschichte der Stadt, die durch die körperlichen Erfahrungen der Menschen hindurch erzählt werden soll: „Wie Frauen und Männer sich bewegten, was sie sahen und hörten, die Gerüche, die in ihre Nase drangen, was sie aßen, was sie trugen, wann sie badeten, wie sie sich liebten“, schreibt Sennett darin. Ohne den Körper ist die Stadt für den Soziologen nicht zu denken; „Kartographie“ des argentinischen Zeichners Sike erscheint wie eine in das Medium Comic übertragene Reflexion über diesen von Sennett beschriebenen Zusammenhang von Fleisch und Stein. Der Stadtplan von Buenos Aires verbindet sich darin mit dem Leben und den Gedanken des Protagonisten und seiner Freunde, verschwimmt zu einem einzigen Körper: „Ich denke an all die Menschen, die in den letzten Jahren hier gelebt haben, und stelle mir alle ihre Körper gleichzeitig vor. Ich will nicht zu sehr ins Mystische verfallen, aber ist das Gedächtnis eines Ortes für diejenigen wahrnehmbar, die seine Geschichte nicht kennen? Schwebt die Erinnerung in der Luft?“

Die in leuchtendem Orange und dunklem Blau gestalteten Comic-Seiten, die passend zum Thema immer wieder eine Street-Art-Ästhetik annehmen, lösen sich häufig von einer klaren Panelstruktur, öffnen sich hin zu ganzseitigen Zeichnungen oder kleinteiligen Stadtansichten, bieten neue Wege und Umwege an, Gedanken und Reflexionen über die Veränderung einer Stadt wie Buenos Aires, über steigende Mieten und Proteste gegen Gentrifizierung (bei einem solchen wird der Protagonist von der Polizei bewusstlos geschlagen), über Cyborgs und andere Formen der künstlichen Überschreitung des menschlichen Körpers, die Geschichte der Kartographie und deren politische Implikationen — wann etwa wurden im Londoner Stadtplan Gefängnisse und Armenhäuser bewusst nicht abgebildet? Seit Erscheinen von „Kartographie“ in Argentinien 2019 dürften sich einige der beschriebenen Konfliktlinien um Wohnraum und Verdrängung unter der Regierung Javier Milei noch einmal verschärft haben, sie nehmen in „Kartographie“ bereits viel Raum ein.
„Es mag abgedroschen klingen, aber ich glaube wirklich, dass es zwischen Körper und Stadt Analogien gibt“, so der Protagonist. Möglichst viele Facetten des Organismus Körper wie auch des Organismus Stadt scheint Sike anschneiden zu wollen, eingebettet in eine lose Geschichte um das soziale Gefüge des Protagonisten, das sich nach und nach auflöst. „Kartographie“ ist ein autofiktionaler, philosophischer Comic-Essay, in dessen Fragen man sich ebenso verlieren kann wie im Straßengewirr einer Großstadt.
Dieser Beitrag erschien zuerst in: Strapazin #158
Sike: Kartographie • Aus dem argentinischen Spanisch von Lea Hübner • Avant-Verlag, Berlin 2024 • 128 Seiten • Hardcover • 25 Euro
Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins. Zuletzt ist von ihm die Textsammlung „Nach Strich und Rahmen“ erschienen.

