„Ein Frühling in Tschernobyl“ – Von der Darstellbarkeit der Reaktorkatastrophe

Im Jahr 2008 fährt das französische Künstlerkollektiv des Vereins Les Dessin’Acteurs, unter ihnen der Comiczeichner Emmanuel Lepage, zum zweiten Mal zur größten atomaren Unglücksstelle des 20. Jahrhunderts, nach Tschernobyl. Für Lepage ist es die erste Unternehmung solcher Art. An der ersten Expedition wollte eine Schauspielerin teilnehmen. Zur Vorbereitung musste sie zunächst den Grad ihrer Verstrahlung messen lassen. Über das Ergebnis sagten ihr die Ärzte: „Wenn Sie Angst haben, dann fahren sie nicht hin. Künstler haben dort nichts zu suchen!“ Der befreundete Fotograf und Dichter Pascal merkt an, dass die Katastrophe in Tschernobyl nicht nur „Wissenschaftlern, Atomtechnikern, Journalisten und Humanitärhelfern“ vorbehalten ist. Eine künstlerische Wahrnehmung kann ebenfalls zur Erfassung der Katastrophe beitragen.

Umso entscheidender erscheint das Engagement von Künstlern in der Katastrophen-Region, als viele Desasterszenarien zumeist medial und aus zweiter Hand erfahrbar sind. Abgesehen von herkömmlichen Bürgern wird selbst Experten kein uneingeschränkter Zutritt zu Unglücksorten erlaubt. Dieses Privileg besitzt nur ein ausgewählter Personenkreis. Unter diesem Gesichtspunkt erschließt sich retrospektiv die Wahrnehmung vom Super-GAU in Tschernobyl als ein vorrangiges Medienevent, indem die Inszenierung und Berichterstattung die Auffassung von den dortigen Ereignissen stark mitfärbt.

Je länger sich Lepage in der lebensfeindlichen Umgebung befindet und die dortigen Eindrücke festhält, umso schneller weicht die von ihr ausgehende Gefahr und allmählich entpuppt sie sich als strahlende Schönheit. Überrascht von seinen eigenen Einsichten, beginnt Lepage an seinen Zeichnungen zu zweifeln. Der Verein beauftragte ihn, die dortige Katastrophe einzufangen. Statt eines Anblick des Todes „offenbart sich [ihm] das Leben!“ In einem Interview in Japan, mehrere Jahre nach den Erlebnissen in Tschernobyl, gesteht Lepage seine Unzufriedenheit mit den Zeichnungen. Der Erlös der Zeichnungen war für wohltätige Zwecke vorgesehen, doch konnte ihr eigener Urheber es nicht dabei belassen. Zu unreflektiert erschienen ihm die Skizzen. Es bedurfte einer Narration, um ihr Wesen und die dahinterstehende Entstehung zu verdeutlichen. So formte Lepage sein einstiges Skizzenheft in eine bande dessinée um und platzierte sich selbst als Charakter in die Geschichte.

Die Reaktorkatastrophe und ihr Ausmaß an Zerstörung künstlerisch einzufangen, gestaltet sich als äußerst sperrig und schwierig. In seinem Pamphlet „10 Thesen zu Tschernobyl“ stellt Günther Anders zugleich voran, dass „die eigentliche Gefahr von heute […] in der Unsichtbarkeit der Gefahr [besteht].“ Literarische und kulturelle Studien stellen sich diesem Dilemma von der Darstellung des Unsichtbaren und suchen nach Symptomen, die auf sie verweisen. So gehen sie der Frage nach, wie sich Gedanken und Sprachen angesichts dieses unsichtbaren und medial-präsentierten Risikos verändern. Wie werden Körper und Raum dabei erfahren? Und wie zeigt sich das Risikobewusstsein einer allgegenwärtigen Gefahr in kulturellen Praktiken und ästhetischen Formen? Viele der literarischen Auseinandersetzungen mit Tschernobyl, zu nennen wären hier Vladimir Gubarevs „Der Sarkophag“ oder Christa Wolfs „Störfall“, sehen einen Ausweg aus der künstlerischen Misere, indem sie gezielt die Auswirkungen der Katastrophe auf den Alltag betrachten und welche Erwartungshaltung mit ihnen einhergeht.

Emmanuel Lepage verfolgt einen ähnlichen Ansatz in seiner grafischen Reportage. Zunächst versucht die Künstlergruppe so nah wie möglich an den Unglücksort, an den explodierten Reaktor zu gelangen. Doch schnell wendet sich das Interesse an die umliegenden Ortschaften und den darin lebenden Menschen, die unweit der Zone weiterhin in ihren Dörfern verharren.

Lepage eröffnet in seinem Werk eine zusätzliche Bedeutungsdimension. Bislang sind vornehmlich literarische Werke über die Nuklearkatastrophe erschienen. Hierbei spielt die Sprache eine gewichtige Rolle. Wie lässt sich das, was in Tschernobyl passierte und noch in der Gegenwart eine Gefahr darstellt, sprachlich ausdrücken? Lepage steht vor einem zusätzlichen Problem: Wie lässt sich das Desaster visuell vermitteln? Einen Ausweg aus dem Dilemma bietet die Comicform. Genau dieser Frage nach der Darstellbarkeit des Reaktorunglücks in Tschernobyl widmen sich die folgenden Zeilen.

Erster Aufenthalt in Tschernobyl

Am nächsten Tag steht eine kurze Expedition nach Tschernobyl an. Bevor der eigentliche Ort besucht wird, bekommen Lepage und seine Kollegen Anweisungen über Verhaltensweisen und Gefahren in der Zone. Aufgrund der hohen Radioaktivität dürfen die Künstler nur 20 Minuten am Ort verbleiben und ihre Zeichnungen anfertigen. Im Hintergrund ertönt ständig das Ticken des Dosimeters, welches zusätzlich für Anspannung sorgt, jedoch die Radioaktivität verlässlich anzeigt. Während Lepage vom Reaktor eine Zeichnung anfertigt, merkt er schnell die Steifheit seines Strichs. Unzufriedenheit macht sich bemerkbar. Die weitere Station des Ausflugs ist Prypjat. Anders als die vorher im realistischen Stil angefertigte Zeichnung in Tschernobyl verlässt Lepage die Pfade des Realismus und fertigt eine assoziative Skizze an. Mit einem Kohlestift versehen ragt mit wackligen Strichen das Riesenrad der Stadt heraus. Die Szenerie wirkt verschwommen. Im Vordergrund scheint sich ein Strand aufzutun, auf dem ein Boot gestrandet liegt. Am linken Bildrand erzählt Lepage von den Einwohnern, meist Ingenieure und Arbeiter im Atomkraftwerk, bei denen das Durchschnittsalter die dreißig nicht überschritt. Viele Frauen erwarten Kinder.

Weitere Ausführungen über das Schicksal folgen nicht. Das Bild schultert den Erklärungsversuch. Im Hintergrund der gelieferten Information über die anstehenden Geburten und die Einwohner, fungiert das Riesenrad als Sinnbild des Lebenszyklus von Geburt und Tod. Die kreishafte Bewegung verdeutlicht diesen Aspekt. Das Boot jedoch steht still. Es liegt auf dem Trockenen, und kein Meer zeigt sich in weiter Ferne. Wo Lepage vorher steif und unbehaglich die Zeichnung vom Reaktor anfertigte, verlässt er den realistischen Anspruch und schafft eine eigene Auffassung von Prypjat und dessen Schicksal. Der Strich bei dieser Zeichnung ist alles andere als steif, er wirkt fast schon vibrierend. Als der Ausflug sein Ende nimmt, bemerkt Lepage bei der Rekapitulation, dass seine Hand nicht mehr schmerzt. Anscheinend findet er allmählich einen künstlerischen Ausdruck für die Zone und die unsichtbare Gefahr.

Nach dem ersten Aufenthalt in der Zone stehen Lebensmitteleinkäufe im Nachbardorf an. Prompt werden die französischen Gäste zum Abendessen eingeladen. Während des Beisammenseins stimmt Morgan, eine französische Musikerin und Sängerin, ein Lied über ein Kind im Brunnen an. Lepage wird sofort nostalgisch und erinnert sich an seine Jugendzeit. Einsamkeit umgab ihn in jenen Jahren und eine Flucht wies das Zeichnen. Schon damals begann er Katastrophen zu zeichnen, „Atomkriege… Welten mit technologischen Katastrophen… radioaktiven Wolken… der Natur überlassenen Städte. [Lepage] zeichnete Universen ohne Menschen… Welten, in denen ihre Konsequenzen und Unvernunft zu ihrem Fall geführt hatten.“ Lepage resümiert den Ausflug in die Zone und die dort angefertigten Zeichnungen im Hinblick auf seine Kunstauffassung aus der Jugendzeit. Damals vermochte er noch Szenarien ohne Menschen zu kreieren. Fast schon resigniert stellt Lepage, rauchend und in der Nacht eingehüllt, fest, dass seine Zeichenfertigkeiten in Tschernobyl versagen.

Der Einzug der Farbe

Der folgende Tag erstrahlt schon in ganz anderem Licht. Lepage erwacht am 1. Mai und seine Umgebung ist in Farbe gehüllt. Die vorher beklagte Unzulänglichkeit der eigenen Zeichenkünste scheint verflogen. Der angemessene Ausdruck der Katastrophe scheint in der Farbe zu liegen. Im weiteren Verlauf des Tages findet ein Ausflug in einen nahegelegenen Wald statt, nahe dem Dorf Bober. Während Lepage farbige Zeichnungen von verlassenen und brachen Hütten anfertigt, empfindet er „dieselbe romantische Faszination wie […] das 19. Jahrhundert für die Ruinenmalerei. […] Aber in Tschernobyl mischt sich ein Schuldgefühl ein.“ Worin dieses Schuldgefühl genau besteht, offenbart die nachfolgende Doppelseite. Wo vorher einzelne Hütten farblich angehaucht waren, erstrahlt nun der Wald in voller Farbenpracht, mittendrin Lepage. Ein abgeknickter Baum dominiert den Fokus. Unter dem Stamm masrchiert Lepage mit Zeichenblock und Klappstuhl unterm Arm. Die Vermutung liegt nahe, dass das Schuldgefühl darin liegt, Tschernobyl, einem Ort des Todes, lebendige Farben einzuhauchen. Zunächst scheint Lepage selbst erschrocken von seinen Zeichnungen zu sein, da diese anschließend an die Öffentlichkeit gelangen und für einen guten Zweck verkauft werden. Was für ein Aufschrei wäre angesichts farbenfroher Bilder zu erwarten?

An anderer Stelle befinden sich Gildas und Lepage unweit der Brücke Martinowitschi. Lepage fragt Gildas zögerlich, ob man Tschernobyl als schön bezeichnen könnte? In der Frage liegt zugleich eine innere Zerrissenheit, die Lepage zeichnerisch auf derselben Seite festhält. Oben findet sich eine Zeichnung der umgebenden Landschaft, in einfachem schwarz-weiß gehalten. Es wirkt erdrückend, kahl und leblos, fast schon feindlich. So, wie man sich Tschernobyl vorstellt. Unten jedoch, womöglich derselbe Ausschnitt, eine ähnliche Szenerie, diesmal nur mit Farbe. Letztendlich lässt sich Lepage nicht von den Erwartungen an seine Zeichnungen beirren und folgt seiner eigenen Auffassung. Die nächsten Abschnitte bestechen weiterhin durch farbreiche Zeichnungen von Mensch und Natur in dieser bedrohlichen Umgebung.

Zeichnungen als Fotografie

Die Tage vergehen und Lepage wendet sich mehr vom industriellen Komplex in Tschernobyl und Prypjat ab und widmet sich stattdessen den Landsleuten in der näheren Umgebung und ihrem Alltagsleben. An einem Tag besuchen Lepage und Gildas eine Schule in Kraciatschi. Sie wohnen zunächst einer Unterrichtsstunde von Tola, dem Musiklehrer, bei. Anschließend versucht Gildas den Kindern beizubringen, wie man ein Huhn mit Gummistiefeln malt. Auf dem Gang der Schule befindet sich Lepage und versucht eine Zeichnung einer ABC-Schutzmaske anzufertigen. Während Lepage, angelehnt an der Wand, zeichnet, „kommt [ein Kind] vorbei und läuft geduckt unter der Maske her, die [Lepage] gerade zeichne[t], als würde [er] ein Foto machen.“ Diese Episode verdeutlicht den Stellenwert einer Zeichnung und die Notwendigkeit, dass Lepage sich selbst in das Geschehen einwob. Eingangs wurde ein Zitat aus einem Interview von Lepage erwähnt, in dem er selbst auf die Dringlichkeit eines Narrativs und seiner eigenen Person darin verweist. Letztendlich ist „Ein Frühling in Tschernobyl“ ein Erklärungsversuch für seine dort angefertigten Skizzen.

Ein Wesensmerkmal von Comics ist ihre Selbstreflexivität. Dieses Merkmal benötigt Lepage, um genügend Freiraum zu besitzen, die Realität nach seinem Empfinden umzuwandeln. Ob ihm dasselbe in Form von Literatur oder Fotografie, welche noch stärker auf Authentizität und Realismus pocht, gelänge, ist fraglich. Seine eigene Person hingegen versichert den Wahrheitsgehalt seiner Zeichnungen und deren Ausprägung. Es bedarf somit eines Indikators für den Wahrheitsanspruch, den der Comic erhebt. Insbesondere in der Wahrnehmung von Katastrophen. Tschernobyl bleibt weiterhin ein gefährlicher Ort. Doch hält es die Natur und den Menschen nicht vom weiteren Leben ab. Das Unsichtbare wurde mit dem Comic sichtbar, ermöglichen konnten es Menschen und Farbe.

Strahlende Schönheit

Als sich das Reaktorunglück von Tschernobyl ereignete, suchten die damaligen Schriftsteller nach einem passenden Ausdruck für die Katastrophe. Wie stellt man ein Ereignis dar, welches vorher noch nie in Erscheinung trat? Christa Wolf revidiert anhand der Erzählerinstanz in ihrem Roman „Störfall“ gängige Sprachmuster und erachtet diese als unzulänglich, will man über Tschernobyl sprechen. Doch vollzieht sich ein Wandel in der Sprache. So bekommen Begriffe eine neue Bedeutungsebene. Wo früher Wolken meist mit Glück und Zufriedenheit assoziiert wurden, ist nun eine Wolke in Form eines Atompilzes denkbar. Ein literarischer Ausweg findet sich in der Darstellung von Menschen und ihrem Alltag, welcher von der Nuklearkatastrophe verändert wurde. Emmanuel Lepage steht vor ähnlichen Herausforderungen, versucht, diese mithilfe des Comics zu umgehen. Comics eröffnen mit ihrer Symbiose aus Text und Bild eine neue Bedeutungsdimension und vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten. Wo die Sprache aufhört, beginnt das Bild. Was im Bild nicht dargestellt werden kann, lässt sich im Text ausdrücken. Dementsprechend finden sich zwei Ebenen von Erzählungen im Comic, nämlich im Text und Bild. Das kleinste Segment stellt dabei das Panel dar. Komplexere Bewegungsmuster und Handlungsstränge finden sich in der Panelsequenz. Mehrere solcher Sequenzen bilden dann eine Comic-Seite. Mit der Leerstelle zwischen den Panels zwingt der Comic den Leser zur Vervollständigung dieser Lücke. Was er dabei imaginieren wird, hängt von den im Panel vorhandenen Indizien ab.

Dieser Text erschien zuerst leicht verändert auf: Striche & Zeichen

Quellen:

Anders, Günther: 10 Thesen zu Tschernobyl (1986). In: Nach Tschernobyl. Regiert wieder das Vergessen? Hrsg. v. Hans-Jürgen Wirth. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag GmbH 1989. S. 11 – 17.

Heise, Ursula K.: Afterglow: Chernobyl and the everyday. In: Nature in Literary and Cultural Studies. Transatlantic Conversations of Ecocriticism. Hrsg. v. Catrin Gersdorf und Sylvia May-er. Amsterdam – New York: Editions Rodopi B.V. 2006 (= Nature, Culture and Literatur 03). S. 177 – 207.

Lepage, Emmanuel: Ein Frühling in Tschernobyl. Bielefeld: Splitter Verlag GmbH & Co. KG 2013.

Marples, David R.: The social impact of the Chernobyl Disaster. Basingstoke: Macmillan 1988.

Tomoko, Hanai: Emmanuel Lepage: Bringing Something New to BDs. 2013. http://www.nippon.com/en/views/b02204/.

Das Buch:

Emmanuel Lepage (Text und Zeichnungen): Ein Frühling in Tschernobyl. Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter, Bielefeld 2013. 168 Seiten. 29,80 Euro

Anton Littau ist Content Manager und Junior Digital Analyst – Performance Marketer bei der Berliner Agentur Moccu und verfasst nebenher Essays über Comics und Graphic Novels.