Die Zivilgesellschaft im Iran hat unter der autoritären Regierung kaum Möglichkeiten, sich zu entfalten. Und zugleich ist der iranische Film berühmt für seine fein austarierten Auseinandersetzungen mit den Auswirkungen der Repressionen auf die Menschen. Ähnlich ausdifferenziert zeichnet der Comiczeichner Mana Neyestani das Bild der iranischen Gesellschaft. Aus seinem französischen Exil hat er in „Papiervögel“ den lebensgefährlichen Alltag der Kolbar – der kurdischen Lastenträger im iranisch-irakischen Grenzgebiet – recherchiert.
Eine endlos scheinende Reihe von Lastenträgern stapft über einen schmalen Pfad entlang eines Steilhangs. Manch einer krümmt sich unter der mannshohen Last. Bei einem anderen greift der Fuß ins Leere, weil er neben den Pfad tritt. Grafisch ist dieses erste, seitenfüllende Schwarz-Weiß-Bild voller Spannung: In feinen Schraffuren ragen die Felsen senkrecht auf, während die Reihe der Lastenträger das Bild in seiner Wagerechten durchschneidet.
Mana Neyestani zeichnet mit filmischen Mitteln. Auf die Totale vom Felshang folgt eine Seite, in der die Zeichnungen immer näher an die Träger ranzoomen. Neyestani zeichnet deren vor Anstrengung verzerrte Gesichter, einen jungen Träger, der aus einer Wasserflasche trinkt. Dann in Nahaufnahme, wie eine Kugel den Kopf des jungen Trägers durchbohrt. Die Träger sind Schmuggler, die von der Grenzpatrouille aufgegriffen wurden.
Inspiriert wurde der Comic von Fotos, Dokumentationen und Zeitungsartikeln. Außerdem hat sich Mana Neyestani mit Menschen aus der kurdischen Community der Kolbars, also der Lastenträger, ausgetauscht. Anlass war das Versprechen der iranischen Regierung, die Situation der Kurden im Grenzgebiet zu verbessern. Seither hat sich nichts getan. Die Kurden sind immer noch so arm, dass sie sich von Banden als Träger für den gefährlichen Weg über die Grenze anheuern lassen. Davon erzählt der Comic-Künstler im Nachwort.

Mana Neyestani zeigt, wie Kinder, Alte und Kriegsversehrte die Lasten tragen. Wie ein Schneesturm den Weg unpassierbar macht. Und wie die Träger dann doch losgehen, weil sie ihre Schulden bezahlen müssen oder Medizin für ihre Familie. Die Träger entscheiden sich, einen anderen Weg zu nehmen, einen, der so marode ist, dass eine Brücke weggebrochen ist und die Lasten durch einen eiskalten Fluss getragen werden müssen. Und dann lauern ihnen auch noch Grenzpatrouillen auf. Die Verfolgungsjagd inszeniert Mana Neyestani mit seinem feinen schwarzen Strich so expressiv, dass sie einem Manga entstammen könnten.
„Papiervögel“ ist wie eine fiktive Reportage über kurdische Lastenträger erzählt. Und dann gibt es noch die Liebesgeschichte von Rojan und Jalal. Rojan ist einem anderen versprochen. Zusammen mit Jalal arbeitet sie daran, gemeinsam nach Teheran zu fliehen. Jalal, der ein Ingenieurstudium angefangen hat, verdient Geld bei den Lastenträgern. Und Rojan knüpft Teppiche, mit deren Erlös sie die Flucht aus der Enge des Dorfes finanzieren will. Je weiter die Träger ihre Lasten über das Gebirge schleppen, desto mehr sieht man im Comic den Teppich wachsen, den Rojan knüpft.
Mit der Ebene des Teppichknüpfens erzählt Mana Neyestani vom traditionellen Leben der Kurden im irakisch-iranischen Grenzgebiet. Von der Enge der gesellschaftlichen Konventionen. Und von der Weite der Literatur, aus der Rojan immer wieder ihre Kraft schöpft. Es ist erstaunlich, wie viel Hoffnung immer wieder an ganz unterschiedlichen Stellen in dieser Geschichte aufkeimt. Zum Beispiel als Jalal für einen der Träger einen Papiervogel faltet. Der Träger ist gerade mal zwölf Jahre alt und geht nicht mehr zur Schule, weil er seine Familie durchbringen muss. Jalal faltet den Vogel aus einem Sandwichpapier – also aus Abfall. Und er fordert den Jungen auf, sich vorzustellen, dass dieser Vogel überall hinfliegen kann. Denn die Vorstellung sei der erste Schritt, etwas Realität werden zu lassen.
Mit „Papiervögel“ dokumentiert Mana Neyestani das harte Leben der kurdischen Lastenträger – und zeichnet zugleich die Mentalität der Menschen nach, die ganz unterschiedlichen Repressionen ausgesetzt sind. Das ist fein beobachtet und atemberaubend gezeichnet.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 02.09.2025 auf: radio3 rbb
Mana Neyestani: Papiervögel • Aus dem Französischen von Christoph Schuler • Edition Moderne, Zürich 2025 • Hardcover • 200 Seiten • 28,00 Euro
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

