„Das Thema Mauerfall ist ein europäisches“ – Comickünstler Flix im Interview

2018 ist das Jahr des berühmtesten Hotelpagen der Welt: das belgische Comicmagazin „Spirou“ und seine titelgebende Comicfigur sind 80 Jahre alt geworden. Das exklusivste Geschenk hat der Carlsen Verlag dem belgischen Geburtstagskind am 31. Juli kredenzt: die allererste „Spirou“-Erzählung aus deutscher Hand, „Spirou in Berlin“ vom Berliner Comickünstler Flix („Faust“, „Glückskind“). Zum ersten Mal hat das belgische „Spirou“-Mutterhaus Dupuis einem deutschsprachigen Verlag erlaubt, die traditionelle Comicmarke weiterzuentwickeln und die Comichelden ins eigene Land einzuladen. Wir veröffentlichen exklusiv und mit freundlicher Genehmigung des Carlsen Verlags das Presse-Interview mit Flix.

Lieber Flix, 2018 jährt sich dein Einstand als Comiczeichner qua Beruf zum 20. Mal (1998 erschien dein erster Comic „Who the fuck is Faust?“ im Eichborn Verlag). Parallel zu deinem künstlerischen Aufstieg hat sich auch der Comic in Deutschland immer weiter etabliert. Wie nimmst du diese Entwicklung wahr? Was hat sich in Deutschland in Sachen Comic in den letzten 20 Jahren getan?
Als ich anfing zu zeichnen, waren die meisten Comics hierzulande Lizenztitel aus den USA, Frankreich und Italien. Ralf König, Walter Moers und Brösel waren die einzigen ernstzunehmenden Zeichner aus Deutschland und wurden ziemlich schnell meine Vorbilder. Mir wurde klar, wenn ich in Deutschland Comics machen möchte, muss ich Themen finden, die hier funktionieren. Also keine amerikanischen Superhelden oder französische Fantasywelten imitieren, sondern etwas eigenes machen. Eher durch Zufall fand ich das Eigene über die Literatur: Goethes „Faust“, der deutsche Großtext. Daraus einen Comic zu machen und ihn in die Jetztzeit zu verlegen, schien mir ein guter Anfang. Und so habe ich über die Jahre immer wieder nach Stoffen gesucht, die mir vertraut sind, sodass ich ihnen meine eigene Note geben kann.

Mein Ziel war immer, gelesen zu werden. Dafür braucht man Publikum. Um das zu erreichen habe ich immer wieder versucht, mit Zeitungen, Zeitschriften, Stiftungen und öffentlichen Einrichtungen zusammenzuarbeiten. Denn die meisten Leute lesen gerne Comics. Sie wissen es bloß nicht. Also müssen Comics dahin, wo diese Leute sind. In öffentliche Räume, U-Bahnen und ICEs, Zeitungen, Blogs, Museen, Reklametafeln etc… Ich stelle fest, dass in den letzten Jahren immer mehr Menschen, die früher über Comics die Nase gerümpft haben, die erzählerischen Qualitäten des Mediums entdecken. Ich glaube, so wie die Fernsehserie erlebt der Comic seit ein paar Jahren eine inhaltliche Neuausrichtung. Wir Zeichner müssen anerkennen, dass wir heute mehr für ein erwachsenes, popkulturell gebildetes Publikum arbeiten. Und dort durchaus Bestseller landen können.

„Spirou in Berlin“, dein lang erwartetes neues Projekt, ist ein weiterer Beweis, wie erfolgreich und virulent der deutsche Comic ist. Das Band ist eine Premiere: zum ersten Mal durfte ein deutscher Verlag und ein deutscher Zeichner eine eigene Version des frankobelgischen Comic-Klassikers „Spirou und Fantasio“ entwickeln. Kannst du uns etwas über die Hintergründe und die Entstehung zu „Spirou in Berlin“ verraten? Wie wurde die Idee zu dem Band geboren?
Den ersten Impuls zu „Spirou in Berlin“ gab ein Gespräch vor gut drei Jahren zwischen Redakteuren von Dupuis, dem belgischen Mutterverlag von Spirou, und dem Carlsen Verlag. Man sprach über die Zukunft der Marke Spirou und überlegte, welche Orte der Welt die Figur in ihrer jetzt 80jährigen Karriere noch nicht bereist hatte. Da kam man auf Berlin. Der Ansatz verfing sich und löste die Idee aus, dass man doch bei dem Thema mit einem deutschen, evtl. sogar in Berlin lebenden Zeichner zusammenarbeiten könnte. Schließlich würde so eine andere Geschichte dabei herauskommen, als wenn man über Berlin aus dem Blickwinkel Brüssel oder Paris erzählen würde. Dieser Ansatz war für Dupuis zunächst ungewohnt. Doch Carlsen blieb am Ball. Das war der Zeitpunkt, wo ich ins Boot geholt und gebeten wurde, ein Konzept für ein „Spirou+Fantasio“-Abenteuer, das in Berlin spielt, zu schreiben. Ich war Feuer und Flamme. Spirou kenne ich gut und habe die Comics als Kind geliebt. Jetzt die Chance zu bekommen, ein eigenes Abenteuer für die Reihe zu verfassen, ist die Erfüllung eines Kindheitstraums. In mehreren Runden entwickelte ich eine Geschichte für den Pagen mit der roten Mütze, die so nur in Berlin spielen konnte und die Dupuis schließlich überzeugte. Wir bekamen tatsächlich grünes Licht für das Projekt.

Inwieweit war der belgische Lizenzverlag in die Entstehung des Comics eingebunden? Wie viel Freiheit hattest du beim Schreiben und Zeichnen? Wurdest du „nur“ vom Carlsen-Redakteur betreut oder musstest du dich auch mit Brüssel koordinieren?
Dupuis war von Anfang an in die Entstehung eingebunden. Ich konnte schreiben und zeichnen, was ich wollte, aber jeder Arbeitsabschnitt wurde angeschaut und abgesegnet. Gelegentlich gab es Anmerkungen und Änderungswünsche. Was bei so einem Projekt notwendig ist. Denn Spirou ist eine inzwischen seit 80 Jahren bestehende Marke, die nicht beliebig verändert werden kann.

Die Handlung von „Spirou in Berlin“ lässt du in deiner Wahlheimat spielen, und zwar im Osten der Stadt, wenige Monate vorm Mauerfall, 1988. Warum fiel deine Wahl auf diesen geschichtsträchtigen Ort und diesen Aspekt deutsch-deutscher Geschichte?
Der Grundansatz der Geschichte war mit „Spirou in Berlin“ gesetzt. Es war mir überlassen, welche Epoche ich mir raussuchen würde. Und Zeiträume, die in den letzten 80 Jahren in Berlin interessant sind, sind überschaubar: entweder das Dritte Reich, die DDR oder die Jetztzeit. Über Spirou im Dritten Reich wollte ich nicht erzählen. Das Thema ist mir, gerade als deutscher Autor, zu vielschichtig, um auf 56 Seiten eine Abenteuergeschichte daraus zu machen. Zudem haben Emile Bravo und Olivier Schwartz diese Zeit schon in ihren Spirou-Geschichten bearbeitet. Für die Jetztzeit habe ich keinen guten Ansatz gefunden, der es zwingend notwendig gemacht hätte, die Story in Berlin spielen zu lassen. Viel, was hier gerade passiert, passiert in anderen Städten ebenfalls. Auch sollte es kein Zeitgeist-Band werden, sondern einer, den man auch noch in 10 oder 15 Jahren gut funktioniert. Also entschied ich mich für den dritten Zeitraum, die DDR. Und da für ihr Ende und das große Wunder der deutschen Geschichte: die friedliche Revolution.

Welche Bedeutung haben „Spirou und Fantasio“ und André Franquin, der einige der besten Alben der Reihe geschrieben und gezeichnet hat, für dich als Comicleser und als Comiczeichner? Und was bedeutet es für dich als Künstler, dass du offiziell an dieser Reihe mitzeichnen darfst?
Ich liebe die Arbeiten von André Franquin. Er hat eine Leichtigkeit in seinen Bildern, die mich immer und immer wieder stauen lässt. Ich habe immer wieder versucht, das zu imitieren, um zu begreifen, wie er das hinbekommt. Aber es ist nicht nachzuahmen. Während der Arbeit an „Spirou in Berlin“ habe ich einerseits oft in seine Alben geschaut, um die Spirouwelt echt aussehen zu lassen. Andererseits musste ich seine Alben immer wieder weglegen, weil mir beim Anschauen immer wieder klar wurde: „Alter! Mit dessen Figuren und Ideen darfst Du gerade arbeiten…!“ Da muss man als Zeichner aufpassen, keine Ladehemmungen zu bekommen.

Als „Spirou“-Geschichte mit Hommage-Charakter ähnlich den „Spezial“-Bänden von Emile Bravo, Olivier Schwartz u. a. ist „Spirou in Berlin“ gespickt mit Anspielungen an klassische Storys aus den 1950ern und 60ern wie „Champignons für den Diktator“, „QRN ruft Bretzelburg“, und die dressierten Zoo-Affen erinnern sicherlich nicht zufällig an die Primaten aus „Bravo Brothers“. Welche Spirou-Storys liegen dir am meisten am Herzen, und warum (und wie) wolltest du ihnen in „Spirou in Berlin“ ein Denkmal setzen?
Es ist interessant bei „Spirou“. Denn ich habe nicht das eine Lieblingsalbum. Ich mag die Figuren und die Reihe an sich. Und da ich mit den Franquin-Alben groß geworden bin, ist sein Werk auch mein Hauptbezugspunkt zu der Serie. Ich mag auch die aktuellen Bände von Yoann & Fehlmann, die der Reihe einen wunderbar lustigen, modernden Ton geben. Und ich lese mit großer Begeisterung die Spezialbände der Serie, gerade weil sie mitunter so anders sind und das Universum öffnen. Ich empfinde sie als unglaubliche Bereicherung. In „Spirou in Berlin“ habe ich versucht, all diese Einflüsse zu zeigen und so viele Figuren, Orte und Dinge aus der Serie aufzugreifen wie möglich. Die meisten als Easteregg zum Suchen und Entdecken, einige aber als wesentlicher Teil der Handlung. Es ist vielleicht der einzige „Spirou“-Band, den ich meinem Leben zeichne. Diese Chance wollte ich nutzen!

Als Popkultur-Konsument kann man sich oft des Gefühls nicht erwehren, dass ohne „Nostalgie“ (sei es im Film, Comic oder in der Musik) kaum noch was geht. Wie stehst du zu diesem Trend? Und wie bist du mit diesem Balanceakt, eine Geschichte zwischen Zitatenkino und Innovation zu erzählen, umgegangen?
Es stimmt. Manchmal glaube ich, dass im Comic, aber auch in anderen Medien, gerade eine neue Phase anbricht. Es gibt eine unglaubliche Vielzahl an bestehenden Figuren. Für jedes Genre und jede Nische gibt es etablierte Charaktere, die sie verkörpern. Vielleicht ist für uns Kreative jetzt die Zeit, mehr mit diesen Figuren zu arbeiten, ihnen mehr Breite und Tiefe und dadurch mehr Charakter zu geben. Man kann es Nostalgie nennen. Aber ich denke, es ist ein Weg, eine Zugänglichkeit zu den Geschichten zu schaffen, die wir über uns, das Heute und unser Leben erzählen wollen. Es ist eine Möglichkeit, Menschen zu erreichen. Den darum geht es: Menschen das, was wir sagen wollen, so zu sagen, dass es sie erreicht. Das war für mich auch die große Herausforderung bei „Spirou in Berlin“. Ich habe versucht, viele Bezüge zu den Originalbänden herzustellen. Aber sie so zu erzählen, dass sie eine neuen Blickwinkel preisgeben. Ein Beispiel: In Franquins „QRN ruf Bretzelburg“ gibt es eine Folterszene. Fantasio wird gefangengenommen und soll mit Essensduft und Quietschgeräuschen auf einer Schultafel dazu gebracht werden, seine Freunde zu verraten. Das Ganze ist relativ lustig angelegt, eine Slapstickparade. Diese Szene habe ich in „Spirou in Berlin“ zitiert, als Fantasio im Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen landet. Denn genau diese Art der nicht-physischen Folter war dort üblich. Nicht mit Quietschgeräuschen, aber mit Essenduft. Und Lichtfolter, sprich das Licht wurde willkürlich an und ausgeschaltet, sodass der Gefangene weder zur Ruhe kam noch schlafen konnte. Bei mir ist die Szene nicht lustig. Es gibt keinen comic relief. Ich wollte so zeigen, wir befinden uns im Spirou-Universum. Aber auch in der DDR. Und die Bedrohung ist real. Ein westlicher Punkt ist für mich, egal ob ich einen „Spirou“ umsetze oder einen literarischen Klassiker wie „Faust“ oder „Don Quijote“, das man meine Version ohne Vorwissen lesen können muss. Die Geschichte muss als Geschichte funktionieren. Und wenn man „Spirou“ kennt oder „Faust“ oder „Don Quijote“, dann hat man vielleicht etwas mehr Spaß. Aber das darf nicht Voraussetzung sein. Sonst habe ich meinen Job nicht gut gemacht.

Als innovativ kann man bei „Spirou in Berlin“ deine Seitenlayouts und Panelführung bezeichnen. Auf nicht wenigen Seiten fallen deine Zeichnungen buchstäblich aus dem Rahmen – ein fliegender Trabi sprengt die Panelrahmen, ein Röhrensystem wird zu einem Panel-Labyrinth und eine Aufzugstür schließt sich auf einem weißen Hintergrund wie ins Nichts, während ein Leben verlischt… Kannst du uns etwas über den zeichnerischen Part deiner Arbeit an dem Band erzählen?
Ich selber mag es, wenn Comics mir über die Seitenarchitektur etwas Zusätzliches erzählen oder eine Aussage verstärken. Dieser grafische „Aha!“-Effekt ist cool. Das ist etwas, was nur der Comic kann. Man darf das nicht überstrapazieren und es muss tipptopp funktionieren. Sonst fliegt der Leser aus der Kurve. Aber so ab und an darf man überraschen. Und da dieses Element in den bisherigen Spirou-Alben noch nicht oft vorkam, dachte ich, das könnte etwas sein, was ich der Reihe hinzufüge.

Weißt du schon, ob „Spirou in Berlin“ in Frankreich veröffentlicht wird? Hattest du schon ein „internationales Publikum“ im Kopf, als du deine Geschichte und vor allem die historischen Aspekte und Zitate (u. a. auf Helmut Kohls „blühende Landschaften“ und „Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“) entworfen hast?
Klar, es war von Anfang an der Plan, einen internationalen Band zu machen. Und ein großes Experiment, ob das klappt. Das Thema „Mauerfall“ ist ein europäisches und über Deutschland hinaus durchaus interessant. Das wäre zum Beispiel bei „Spirou – Die schwarzen Kassen des Helmut K.“ oder „Spirou – Der autofreie Sonntag“ sicher anders. Aber wir müssen uns gedulden; wann und ob der Band in Frankreich erscheint, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch offen.

Zum Schluss noch eine ungewöhnliche Frage, die sicherlich nur du mit dem nötigen Charme beantworten kannst: Du bist ein alter Hase, was Pressearbeit und öffentliche Auftritte anbelangt und hast unzählige Interviews gegeben und Fragen auf offenen Bühnen beantwortet. Welche Fragen möchtest du (in einer idealen Welt) nicht mehr gestellt bekommen? Und welche Fragen hörst du zu selten?
Was ich nicht mehr hören möchte, ist keine Frage, sondern ein Satz. Einer, der immer wieder kommt, wenn Leuten gerade etwas für sie Lustiges passiert ist: „DA musst Du mal einen Comic draus machen!“ Denn in aller Regel lässt sich aus ihren Erlebnissen kein Comic machen. Denn Comics funktionieren anders als das Leben. Und was ich zu selten höre? „Ich liebe Comics. Wo kann ich sie kaufen?“