Eine Ohrfeige für jede Gerechtigkeit – „Lincoln“

Die Comicbranche schickt sich an, den Western neu zu definieren. Der Berliner Comickünstler Mawil ist der erste Deutsche, der den Klassiker „Lucky Luke“ zeichnen darf und prompt soll der im nächsten Abenteuer auf einem Drahtesel durch die Prärie reiten. Und mit „Lincoln“ ist bereits eine Serie auf dem Markt, in der sämtliche Genreregeln gegen den Strich gebürstet werden.

Da philosophiert zum Beispiel ein Indianer am Lagerfeuer so hingebungsvoll über die Marinade für den Lachs und die richtige Gartemperatur auf den heißen Steinen, dass man sich vorkommt wie in einer Koch-Show. Das ist lustig.

Jérôme und Anne-Claire Jouvray (Zeichner*in), Olivier Jouvray (Autor): „Lincoln Bd. 1+2“.
Schreiber & Leser, Hamburg 2018/2019. Je 48 Seiten. Je 14,95 Euro

Das gegen den Strich bürsten hat aber auch eine bittere Seite: Es gibt keine klare Unterscheidung zwischen Gut und Böse – denn Lincoln ist Nihilist und glaubt an gar nichts. Und er rechtfertigt seine ganze aggressive Stinkstiefeligkeit mit so hübsch-philosophischen Worten, dass es eine Ohrfeige für jedes Gerechtigkeitsgefühl ist.

Eine Parodie auf die Beeinflussbarkeit von Massen

Im gerade erschienenen zweiten Band mit dem Titel „Der in den Wind spricht“ geht es um einen Indianer, der ein Hotel in die Luft jagt. Lincolns Bande will ihn dem Sheriff ausliefern, denn die Bandenmitglieder glauben durchaus an eine gerechte Welt und die Situation scheint klar.

Außerdem haben Indianer im Wilden Westen einen schlechten Ruf. Deshalb lästern die Bandenmitglieder ziemlich übel über den angeblich stinkenden Indianer. Das liest sich ausgesprochen selbstgerecht. Vor allem, wenn man erfährt, dass es eigentlich der Indianer ist, dem übel mitgespielt wurde. Denn sein Land wurde ihm von Weißen geraubt.

Spätestens hier könnte der Comic sehr moralisch werden, aber zum Glück ist „Lincoln“ mit so einer Leichtigkeit erzählt, dass man darüber lachen kann: Denn plötzlich brennen die Bandenmitglieder darauf, das Unrecht, das dem Indianer wiederfahren ist, zu rächen. Das könnte man auch als Parodie auf die Beeinflussbarkeit von Massen lesen – die Bandenmitglieder sind wie eine wildgewordene Schafherde, die bei jedem neuen Reiz in eine andere Richtung rennt.

Lincoln selbst will dagegen nichts – es sei denn, es ist zu seinem Vorteil. Dass am Ende die Schurken verlieren, liegt nur daran, dass Lincoln seine Bandenmitglieder doch irgendwie mag und sie aus dem Schlamassel rettet, in den sie sich manövriert haben. Dabei ziehen dann zufällig die Schurken den Kürzeren.

Gott in Bedrängnis

Lincoln und all die anderen Figuren sind mit Linien umrissen, die so wenig klar sind, wie die Positionen der Handelnden: Alles franst aus und die Konturen werden vor allem von Ocker-Farben zusammengehalten. Die zeigen vor allem, wie staubig die Prärie ist. Auffällig auch: Es gibt zwei deutlich kleinere Figuren und das sind ausgerechnet Gott und Teufel, die um die Seele von Lincoln streiten. Hier geht es allerdings nicht um einen Pakt mit dem Teufel, denn das Prinzip dahinter ist, dass einer Gutes will und sich dafür mit dem Bösen einlässt. Aber Lincoln ist Nihilist und deshalb ist es hier Gott, der in Bedrängnis gerät, weil er einfach nicht mehr relevant ist.

Also bittet Gott Lincoln um einen Pakt: Gott darf Lincoln begleiten, um ihn davon zu überzeugen, dass es ihn – also Gott – gibt. Als Beweis verleiht er Lincoln schon im ersten Band Unsterblichkeit. Bislang, also bis zum 2. Band, ist das Lincoln egal. Aber er benimmt sich trotzdem anders, geht zum Beispiel halsbrecherisch in jede Schießerei. Allerdings bekommt er dann doch so etwas wie Skrupel, schießt seine Gegner nicht mehr einfach nieder, sondern bringt sie in Situationen, in denen sie sich gegenseitig umbringen.

Und plötzlich ist man bei der Schuldfrage: Hat sich Lincoln mit dieser Aktion schuldig gemacht? Oder wäre er nur schuldig, wenn er seine Gegner selbst töten würde? Solche moralischen, wie auch gesellschaftliche Fragen werden in „Lincoln“ diskutiert. Ein Comic, der leicht und lustig wie eine Westernparodie daher kommt und zugleich viel tiefer geht.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 29.01.2019 auf kulturradio rbb.

Hier und hier gibt es weitere Kritiken zu „Lincoln“.

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.