Going West – „Ticonderoga”

„Ticonderoga“ entstammt dem Wortschatz der Irokesen, bedeutet „Platz zwischen den Wassern“ und diente auch zur Benennung eines amerikanischen Forts am Lake George im Bundesstaat New York. Dieses lag nicht nur „zwischen den Wassern“, sondern war auch Kampfschauplatz von Franzosen, Briten und Indianern. Bei Avant ist die argentinische Comic-Serie „Ticonderoga“ von Hugo Pratt (Zeichnungen) und Hector Oesterheld (Szenario) nun erstmals in deutscher Sprache erschienen.

Politische Kämpfe und persönliche Konflikte

Wir schreiben das Jahr 1755 in dem vom French and Indian War zerrütteten Nordamerika, in dessen Verlauf Franzosen und Briten sich im Konflikt um die amerikanischen Kolonien gegenüberstehen. Für die Jugendlichen Caleb und Jimmy geht es aber nicht um Politik, sondern um die Liebe einer Frau: Sherley, das seelenlose Objekt der jugendlichen Begierde, schlägt vor, den privaten mit dem politischen Konflikt zu verbinden – die beiden Anwärter auf ihre Zuneigung könnten doch in den Krieg ziehen: „Wer den größten Ruhm im Kampf erntet, bekommt mich als Belohnung.“

Hector G. Oesterheld (Autor), Hugo Pratt (Zeichner): „Ticonderoga“.
Avant Verlag, Berlin 2019. 304 Seiten. 50 Euro

Die weibliche Trophäe gerät angesichts der Abenteuer rasch aus dem Fokus des Lesers wie auch der Jungen, die den Trapper Joe „Ticonderoga“ Flint kennenlernen. Seite an Seite kämpfen sie mit den britischen Truppen gegen Franzosen und Indianer, gemeinsam mit Numokh, dem stammesungebundenen Indianer, der uns als bon sauvage durch die Lektüre begleiten wird – ein klassischer Westerntopos, ganz gleich in welchem Medium.

Westerncomics

Westerncomics sind wie Westernromane und -filme schon längst nicht mehr hoch im Kurs. Hugo Pratt schrieb seine Westernserien allesamt vor dem großen Boom, den Sergio Leones „Für eine Handvoll Dollar“ (1964) und Sergio Corbuccis „Django“ (1965) auslösten. Gemeinsam mit Hector Oesterheld hatte er zu diesem Zeitpunkt längst „Sgt. Kirk“ (1953-61) und „Ticonderoga“ geschrieben, allein außerdem „Wheeling“ (1962-64). Es mag sein, dass sein Interesse in der italienischen Leidenschaft für das Genre begründet ist (Bonelli/Galleppini: „Tex Willer“ 1948, Lina Buffolente: „Il Piccolo Sceriffo“ und „Kinowa“). Während Pratts „Wheeling“ deutschsprachigen Comiclesern durch die Übersetzungen in der Comicothek (1986) zugänglich gemacht wurden, ist „Sgt. Kirk“ nur als italienische, französische oder englische Ausgaben verfügbar.

Kein Cowboy-und-Indianer-Narrativ um die American Frontier, keine Story über die Ausweitung des Eisenbahnnetzes, keine um Wagenkolonnen reitenden und drohenden Indianer erwarten den Leser, sondern eine abenteuerliche Geschichte um die Erlebnisse zweier Jungs in einem grausamen Kolonialkrieg. Ein „New-England-Western“ sei dies, so Alexander Braun, Kurator der Western-Comic-Ausstellung „Going West“, die zwischen 2014 und 2016 von Basel über Dortmund nach Hannover wanderte. Keine verkitschten Siedlertrecks, keine dramatischen High-Noon-Szenen.

Seite aus „Ticonderoga“ (Avant Verlag)

Best of Indianerabenteuer

Caleb und Ticonderoga, die im Mittelpunkt der Erzählung stehen, erleben ein Best-of klassischer Indianerabenteuer zwischen überheblichen Kolonisatoren und untereinander verfeindeten Indianerstämmen. Die kurzen Episoden sind auf die Abenteuer fokussiert, geben aber auch Gesprächen über den Tod, Freundschaft oder Vertrauen Raum. Abgesehen von Geschlechterrollen, die sechzig Jahre nach Erscheinen des Comics genauso alt aussehen, wie sie sind, gewährt Szenarist Oesterheld den Figuren auch etwas Individualität abseits ethnischer Stereotype.
Es ist ein besonderes Aufeinandertreffen zweier Ausnahmekünstler: Der Argentinier Hector Oesterheld („Eternauta“) und der Italiener Hugo Pratt („Corto Maltese“) haben sich in Buenos Aires kennengelernt und mehrere Comics wie etwa die Kriminalerzählung „Ray Kitt“ (1951) und die Western-Serie „Sgt. Kirk“ (1953-61) gemeinsam gestaltet. 1957 gründete Oesterheld mit seinem Bruder zwei monatlich erscheinende Comic-Magazine: Während in „Hora Cero“ („Stunde Null“) der argentinische Science-Fiction-Klassiker „Eternauta“ sein Zuhause fand, wurde „Frontera“ das Blatt, in dem „Ticonderoga“ erschien.

2018 ist bei Casterman eine französische „Ticonderoga“-Ausgabe in zwei Bänden erschienen, nun liegt diese auch in Deutschland vor – entsprechend der 14-teiligen, argentinischen Originalpublikationen im ungewöhnlichen Quer- und Hochformat. Die kurzen Episoden, zwischen 8 und 18 Seiten, erleichtern das Erzählen nicht unbedingt, dies ist noch nicht die narrative Langform, die Pratt mit der „Südseeballade“ etablieren wird.

Ende einer Zusammenarbeit

1959 stellten die beiden Künstler ihre Zusammenarbeit endgültig ein, „Ticonderoga“ endete abrupt – wurde die Serie noch als Rückblickerzählung des gealterten Caleb begonnen, bleibt dieser Rahmen unabgeschlossen. Pratt und Oesterheld waren sich nicht einig, wer wie viel Anteil an den Comics habe, und gingen im Streit auseinander. Dass im Glanze dieses schillernden Künstlerduos die eigentlich ausführende Hand ungenannt bleibt, ist ein schlechter Witz der Comicgeschichte: Hugo Pratts damalige Assistentin und Partnerin Gisela Dester zeichnete die Szenarios Oesterhelds ab der siebten Episode.

Pratt verließ Südamerika, begann seine Arbeit an dem grafisch fortgeschrittenen Western „Wheeling“ und ließ seinen exotistischen Bick schließlich weiterschweifen. 1967 erschien die „Südseeballade“, Corto Maltese wurde geboren.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Ticonderoga“.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.