„Ich habe mit einem Anatomieblatt und einem Plastikskelett angefangen“ – Interview mit Éric Liberge

Bereits 2008 erschien bei Splitter die vierbändige Groteske „Monsieur Mardi-Gras – Unter Knochen„, in der Autor und Zeichner Éric Liberge der Frage nachgeht, was uns nach dem Tod erwartet: eine mondähnliche Steppe, auf der die Toten als bloße Gerippe ihr weiteres Dasein fristen, ihre Knochen als Tauschmittel nutzen und auch sonst ein bizarres gesellschaftliches Zerrbild ihrer diesseitigen Gepflogenheiten abgeben. So kühn wie die Ausgangsidee ist auch die grafische Ausführung, denn Liberge bestreitet die über 200-seitige Erzählung folglich einzig mit Skeletten als Figuren. Das Ergebnis ist atemberaubend.
Kürzlich veröffentlichte der Splitter Verlag mit dem über 150-seitigen Epos „Post aus dem Jenseits“ ein Prequel zur Hauptgeschichte.
Wir präsentieren in Auszügen das darin als Bonus enthaltene Interview, das Jérôme Marande im Herbst 2015 mit Éric Liberge geführt hat. Die vollständige Fassung findet sich in der deutschen Ausgabe von „Post aus dem Jenseits“.

libergeJérôme Marande: In diesem Opus erweiterst du die Grenzen der Seitengestaltung durch das Zusammenfügen von zum Teil recht gewagten Bildern. Viele Seiten erinnern mich in Form, Dimension und Platzierung der Bilder an bestimmte Comics von Paul Druillet. Besonders deutlich wird das beispielsweise auf den Seiten 33 und 42, wo man ein wenig von „Delirius“ oder von „Lone Sloane“ wiederfindet. Inspiriert dich dieser Zeichner immer noch?

Éric Liberge: Meine Arbeit war schon immer eine Art Schmelztiegel. Heute ist sie das allerdings weniger als früher, denn ich muss bei meinen Lieblingsautoren keine grafischen Anleihen mehr machen. Aber Druillet bleibt, was den Comic betrifft, mein geistiger Vater, das gebe ich gern zu, und ich freue mich, dass ich einmal Gelegenheit hatte, ihm das selbst zu sagen. Heute entspringen der Stil und die Seitengestaltung eher Träumereien. Und wie du gesehen hast, habe ich nur sehr wenige Comics zu Hause. Ich habe übrigens auch nur die für mich grundlegenden Alben behalten, etwa einhundert, und die sind oft weit entfernt von dem, was ich mache.

309116-20151221150347Wie arbeitest du? Wie wird dein Szenario redigiert? Wie deine ersten Skizzen, Entwürfe und andere Storyboards, bis sie endlich auf eine Bildseite gelangen?

Ganz am Anfang steht eine Träumerei. Das ist eine ganz wichtige Phase, die mich, wenn sie produktiv ist, zu der zwingenden Notwendigkeit führt, das Gesehene zu Papier zu bringen. Passt die Träumerei gut zur Geschichte, die ich erzählen möchte, ziehe ich den Faden und beobachte, was kommt. Es entsteht dann eine Sequenz, die ich möglichst abwechslungsreich gestalte. In diesem Stadium bin ich nur Zuschauer, wie im Kino. Ich gehe die verschiedenen Möglichkeiten durch, die sich für eine Fortsetzung anbieten. Das sind im Grunde Fantasieprodukte. Was das »Schreiben« anbetrifft, so lasse ich nahezu alles im Kopf entstehen. Ich skizziere sehr wenig, denn die Optionen wechseln sehr oft und viel. Daher halte ich mich nicht lange mit Schreiben auf, sondern lasse das Gedächtnis arbeiten. Überdies sind diese Traumbilder von Gefühlen und Stimmungen eingefärbt, die sich nicht in wenigen Worten niederschreiben lassen. Bei „Monsieur Mardi Gras – Unter Knochen“ zum Beispiel habe ich der Form halber und in einem geeigneten Moment eine Zusammenfassung für den Verleger erstellt, obwohl mir völlig klar war, dass sich nur wenig bis gar nichts davon in der endgültigen Fassung wiederfinden würde. Ich lasse mir da größtmögliche Freiheiten, denn man weiß nie, was noch passiert. Ein Bild, eine Radiosendung, ein Film, ein Wort – und hopp! Schon ist eine neue Idee da, die man nicht vorhersehen konnte, und die eine ganze Sequenz noch besser macht. Manchmal bin ich versucht, etwas zu machen, was mir suspekt erscheint. »Nein, sowas kannst du nicht zeigen oder jemand in den Mund legen!« Um mir dann zu sagen: Doch, ich kann! Denn eben darin liegt der Sinn, allein zu arbeiten. Das Werk nach Belieben anpassen, es nach Wunsch dosieren zu können, ist der einzige Garant für seine Homogenität. Ich habe schon mit Szenaristen gearbeitet, die die Geschichte von Anfang an blockiert haben, die keinerlei Bereitschaft zeigten, dieses oder jenes zu modifizieren, und dies gar zu einer gewichtigen Frage des Ego machten. Für mich ist immer Zeit, etwas zu verbessern, zu verändern. Ein Album, das man in Arbeit hat, ist wie ein lebender Teig, wie ein Film, den man dreht. Eine Geschichte erstarren zu lassen, hieße, einen Kadaver zu bemalen.

303287Du bist unter den Zeichnern DER Spezialist für Skelette. Und mit jedem Album gewinnt dein Zeichenstil mehr und mehr an Genauigkeit. Dies gilt besonders für die Fingergelenke, die in diesem letzten Band in großer Präzision dargestellt sind. Hast du Abendkurse in Anatomie belegt, um diese Präzision zu erreichen? Wie viel Zeit verwendest du auf Seiten mit einem Trinkgelage oder einer Rauferei, wenn sich Dutzende von Skeletten ineinander verhaken?

Ich habe mit einem Anatomieblatt und einem kleinen Plastikskelett angefangen. Das hat mir bei den ersten vier Bänden sehr geholfen. Für „Monsieur Mardi Gras – Unter Knochen“ habe ich mir dann ein mannshohes stehendes Skelett zugelegt. Eine, wie ich fand, überfällige Investition, nach all der Zeit. Damit konnte ich nun einige Bereiche wesentlich deutlicher erkennen als an dem kleineren, nur 30 cm hohen Modell. Für dieses neue Album hatte ich mir vorgenommen, anatomisch korrekte Hand- und Fußskelette zu zeichnen, während es vorher nur Hände mit etwas Fleisch auf den Knochen waren. Dieser Ansatz hätte für das neue Album, in dem alles absolut realistisch sein sollte, nicht mehr funktioniert. Komplizierter wird es natürlich, wenn ich mich an Szenen wie die in der Bar oder an Schlägereien heranwage, in die haufenweise Figuren verwickelt sind. Hierbei geht es darum, ein Höchstmaß an Konfusion zu erzeugen, ohne dass es die Lesbarkeit beeinträchtigt. Ich kann sagen, dass ich an solchen Seiten, und erst recht an den Doppelseiten, vier bis fünf Tage zu arbeiten habe. Aber wenn alles von Anfang an gut durchdacht ist, schaffe ich das, ohne mich zu verzetteln, weder bei den Körpern noch in der Tiefe des Raumes. Beim Tuschen beginnt man mit dem Vordergrund und zieht sich dann logischerweise immer weiter in die Tiefe des Bildes zurück, wobei man nur darauf achten muss, die Strichdicke zu verringern. So bekommt man es ganz entspannt hin, jede Art von wildem Durcheinander zu realisieren.

Wie stellst du dir dein Leben nach dem Tod vor? Wie sind deine Überzeugungen, deine Zweifel? Inwieweit hat dich „Monsieur Mardi Gras – Unter Knochen“ dazu angeregt, dir selbst diese Fragen zu stellen?

Wenn der Gedanke auf anderen Ebenen des Bewusstseins kreativ ist, würde ich gern in einigen meiner Bilder umherwandern, mich in eine Barke setzen und auf der Umlaufbahn des Pluto einen Kaffee trinken. Natürlich möchte ich das! Doch im Grunde mache ich das ja bereits. Auf jeder Seite, die ich zeichne, stelle ich mir alle diese Dinge vor. Als sich am Ende von Band 4 die Lage beruhigt hat, nimmt sich Mardi-Gras übrigens die Zeit, dem Fegefeuer inmitten einer Gruppe von Verirrten einen Besuch abzustatten. Genau das möchte ich auch machen. Einen Besuch. Aber ernsthaft. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es ein Danach gibt, ein Danach des Geistes. Wie ich mir dieses allerdings vorzustellen habe, weiß ich nicht. Dennoch glaube ich, dass sich in ihm der Glaube eines Jeden von uns widerspiegelt, vor allem, damit wir uns ihm stellen und uns leichter von ihm trennen können, denn der irdische Glaube ist von Natur aus irdisch, also mit Sicherheit nicht die Wahrheit.

Éric Liberge: Post aus dem Jenseits. Splitter, Bielefeld 2016. 152 Seiten. 29,80 Euro

Seite aus „Post aus dem Jenseits" (Splitter Verlag)

Seite aus „Post aus dem Jenseits“ (Splitter Verlag)