Tod, Verlust, Kindheit – „Totem“

309440-20160509143235All diese Coming-of-Age-Geschichten – mit besonders großer Neugierde schlägt man sie nicht mehr auf. Vor einigen Jahren waren sie ein attraktiver Gegenentwurf zu den diversen Genrestoffen, die in der Welt der Comics nach wie vor dominieren. Inzwischen sind sie fast selbst zu einem Genre geworden, mit oft standardisierten Inhalten und Wendungen. Die autobiografische Nabelschauerei, die sie mitunter betreiben, kann einem schon mal auf die Nerven gehen.

Aber dann gibt es immer wieder die herrlichen Ausnahmefälle, die zeigen, was möglich ist, wenn sich große Talente der Sache annehmen. Im letzten Jahr war dies „Ein Sommer am See“ von Mariko und Jillian Tamaki; nun ist es „Totem“, entstanden in einer Zusammenarbeit des belgischen Szenaristen Nicolas Wouters mit dem in Berlin lebenden Zeichner Mikael Ross.

Die Graphic Novel beginnt mit Bildern von einem unheimlichen Spiel. Der zwölfjährige Louis simuliert einen Chirurgen, der seinem drei Jahre jüngeren Bruder Thomas einen Plüsch-Godzilla aus dem Magen operiert. Pürierte Tomaten dienen als Blut, zwei kaputte Bügeleisen als Defibrillator. Als alles vorbei ist und aufgeräumt werden soll, bricht Thomas plötzlich zusammen. Woran er leidet, erfährt man nie; bald darauf jedoch kämpft er im Krankenhaus mit dem Tod.

Die Eltern schicken Louis in ein Pfadfinderlager in die Ardennen, nahe der französischen Grenze. Von Sommer keine Spur, es regnet dauernd in Strömen. In der Gruppe herrscht zudem eine Atmosphäre, die weniger an die Ideale von Robert Baden-Powell als an den „Herrn der Fliegen“ denken lässt. Die Stärkeren drangsalieren, sowohl in physischer wie in psychischer Hinsicht, die Schwächeren, und die unbarmherzigen Prüfungen, die den Jungen von ihren Anführern, einem Bruder-Schwester-Paar, auferlegt werden, leiten einen Prozess der Verrohung und Enthemmung ein, der zum Rückfall in archaisch-tribalistische Verhaltensmuster führt.

So begibt sich der Comic schließlich in ein Zwischenreich, in dem Traum und Wirklichkeit, Fantastisches und Reales nicht mehr deutlich voneinander zu trennen sind. Louis trifft nicht nur auf seinen Bruder, sondern auch auf einen Leo­parden, der aus dem Zoo ausgebrochen ist. Selbst zum Fuchs geworden, durchstreift er an dessen Seite die Wälder und findet Unterschlupf in einem der Bunker der Maginot-Linie, deren Trümmer auf Gewaltzusammenhänge verweisen, von denen sich hier ein spätes, gespenstisches Echo vernehmen lässt.

Das große, fast quadratische Format des Bandes steht im Kontrast zu den überwiegend kleinen Panelgrößen. Trotz der betörenden Aquarell- und Buntstiftkombinationen ergibt sich kaum je der Eindruck einer majestätischen Natur; die Figuren wirken im Draußen wie eingesperrt. Sehr groß ist die Sicherheit, mit der Mikael Ross auswählt, was er wann und wie abbildet. Dies gilt vor allem bei ersten Auftritten, etwa wenn eine hübsche, ganz in Schwarz gekleidete Frau im Camp auftaucht oder wenn der Leopard auf einem riesigen umgestürzten Baumstamm steht und dem vor Schrecken starren Louis tiefgründig, forschend in die Augen blickt.

Meisterhaft ist der doppelte Schluss von „Totem“. Auf eine herzzerreißende Szene zwischen den Brüdern, die den Anfang variiert, folgt ein versöhnender Moment, der eine an den Ereignissen gereifte Gemeinschaft von Freunden zeigt. An der Wand aber hängt, von einem Hund misstrauisch angeknurrt, die Fuchsmaske, die Louis im Wald getragen hat – ein Zeichen dafür, dass sich die Abgründe, von denen dieser Comic erzählt, immer nur temporär schließen können.

Text via taz

Nicolas Wouters, Mikael Ross: Totem. Avant-Verlag, Berlin 2016. 128 Seiten. 29,95 Euro

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