Guy Delisle im Interview über seine Graphic Novel „Geisel“

1997 wird Christophe André, Mitarbeiter der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, im Nordkaukasus von tschetschenischen Separatisten entführt. Guy Delisle hat Christophe André einige Jahre später getroffen und die Geschichte seiner Geiselhaft aufgezeichnet: 111 Tage warten, ohne jedes Wissen um das, was draußen passiert, ob man ihn für tot hält oder um seine Rettung bemüht ist.
Guy Delisle, Autor so erfolgreicher Reportagecomics wie „Aufzeichnungen aus Jerusalem„, „Aufzeichnungen aus Birma“ und „Pjöngjang“ ist neben Joe Sacco zweifellos der bekannteste Comicdokumentarist. Zum ersten Mal nimmt er sich mit „Geisel“ einer fremden Geschichte an und setzt sie sensibel und erschütternd zugleich um.
Mit freundlicher Genehmigung von Reprodukt präsentiert Comic.de das Presse-Interview mit Guy Delisle.

9783956401176Vielen Dank, Guy, dass Du Dir die Zeit nimmst, mit uns über Dein neuestes Buch „Geisel“ zu sprechen. In „Geisel“ erzählst Du die Geschichte von Christophe André, einem NGO-Mitarbeiter, der im Jahr 1997 111 Tage in Geiselhaft im Kaukasus verbracht hat. Wie hast Du Christophe kennengelernt und was hat Dich daran interessiert, seine Geschichte zu erzählen?
Christophes Geschichte ist mir zunächst in einem Zeitungsartikel untergekommen und ich war sofort sehr beeindruckt. Ich erwähne seine Erfahrung schon in „Shenzen“ – einem meiner ersten Comicbücher. Durch den Beruf meiner Frau bei Ärzte ohne Grenzen haben wir viel mit Leuten zu tun, die bei NGOs arbeiten, und eines Tages meinte jemand: „Christophe ist hier. Der Typ, den Du in „Shenzen“ erwähnst. Es kommt mit uns zum Abendessen.“ Er saß neben mir und ich habe ihn mit Fragen gelöchert. Ich war sehr erstaunt, weil er so offen über seine Erfahrung sprach. Es hätte mich nicht gewundert, hätte er nicht darüber sprechen wollen – über die schlechten Erinnerungen an die Gefangenschaft. Aber im Gegenteil. Er erzählte mir, eigenhändig zu fliehen, war für ihn die beste Therapie und dass er nicht bereue, was passiert sei. Ich sagte ihm sofort, das sei eine fantastische Story und dass wir eines Tages ein Comicbuch daraus machen sollten. Er sagte: „Ja klar“. Das war vor 15 Jahren. Wir haben damals Tonaufnahmen gemacht. Ein mehrstündiges Interview, das meine wesentliche Informationsgrundlage für die Arbeit an „Geisel“ wurde. Es hat lange gedauert, aber jetzt ist das Buch fertig!

Nach vielen erfolgreichen autobiographischen Comics ist „Geisel“ das erste Buch seit langem, das nicht Deine eigene sondern die Geschichte von jemand anderem erzählt. War es eine Herausforderung die Geschichte eines anderen zu erzählen?
Ja, das war es und das ist wahrscheinlich der Grund dafür, warum sich das Projekt so lange hingezogen hat. Weil es nicht meine eigene Geschichte war, fragte ich mich ständig, ob ich sie richtig erzählte, so wie er sie erlebt hat. Was waren seine Gedanken während der Gefangenschaft? Schließlich begann ich einfach das zu zeichnen, was mir am wahrscheinlichsten schien, und die Zeichnungen an Christophe zu schicken und mit ihm abzugleichen. Das funktionierte gut, denn wir waren inzwischen Freunde geworden. Unsere Kinder sind im selben Alter und wir hatten mehrere Urlaube gemeinsam verbracht. Dass ich ihm die Seiten zeigen konnte, gab mir Mut und es fiel mir immer einfacher zu zeichnen. Ich würde ihm eine Seite schicken und er antwortete „Dieser Typ war ein bisschen älter und
hatte einen Schnurrbart.“ So haben wir gearbeitet. Es war mir wichtig, dass er das ganze Buch gesehen hatte, bevor es in den Druck ging, und es hat mich sehr erleichtert, über den Entstehungsprozess hinweg konstant mit Christophe in Kontakt zu sein.

Eine über 400 Seiten lange Geschichte, die hauptsächlich in einem kargen Zimmer spielt, in Bildern zu erzählen, scheint ein schwieriges Unterfangen – gerade weil Deine früheren Bücher von den exotischen Beobachtungen leben, die Du in fremden Ländern machst. Wie bist Du mit dieser Einschränkung umgegangen?
Ich habe das nicht als Problem empfunden. Als ich Christophe fragte, wie das Zimmer aussah, in dem er gefangen war, ob es Ziegel oder eine Struktur an der Wand gab, sagte er nur „Nein, sie war weiß und flach.“ Das war alles. Aber mir war klar, dass die Zeichnungen sehr minimalistisch werden würden. Seine Geschichte ist so stark. Die Zeichnungen mussten zurückhaltend sein, um der Geschichte den Vorrang zu gewähren. Keine effekthascherischen Szenarien, keine verrückten Perspektiven. Es sollte alles sehr schlicht gezeichnet sein. Die Details, die er mir beschrieb, waren interessant und das war genug.

„Geisel“ lässt die Leser und Leserinnen auf gewisse Weise die Qualen einer Geiselhaft mit durchleben. Die monotone Gleichförmigkeit der Tage, die Langeweile, die Ungewissheit. Wie hast Du dafür gesorgt, dass ein Buch über Eintönigkeit ein spannendes Leseerlebnis bleibt?
Meine Erfahrung als Leser dicker Bücher sagte mir, das würde funktionieren: Die Spannung ist durch die Ausgangssituation gegeben und der Leser wird von einer Seite zur nächsten blättern, weil er wissen will wie Christophe da raus kommt. Aber ich wollte es dem Leser nicht zu leicht machen zu entkommen. Er sollte die Zeit wirklich kriechen spüren. Deswegen habe ich auch sprunghafte Schnitte vermieden à la „Zwei Wochen später…“ und dann ist sein Bart etwas länger, er sieht erschöpfter und etwas ramponierter aus. Es war mir wichtig, fast Tag für Tag zu erzählen, denn es sollte eine Geschichte zum Eintauchen werden, bei der der Leser komplett in Christophes Kopf ist. Das war die wesentliche Absicht des Buches: Die Leser mitfühlen zu lassen, was er dort durchgestanden hat.

Für viele Leser zeichnet sich Guy Delisle durch eine gut ausbalancierte Mischung aus ernsten Themen, frechem Humor und Selbstironie aus. Bei „Geisel“ kommt die humorvolle Note zwangsläufig etwas kurz. Wie war es für Dich an einer weitestgehend humorlosen Geschichte zu arbeiten? Wie wichtig ist Humor für Dich als Storyteller?
Sehr wichtig! Meine Geschichten und Comics bauen eigentlich immer auf Humor. Es war mir klar, dass es diesmal anders werden würde. Ich habe mich trotzdem dafür entschieden, das Projekt anzugehen. Humor ist nur eine Facette und es ist auch spannend unterschiedliche Bücher zu machen. Christophes Geschichte hat mich einfach zu sehr fasziniert.

Der Originaltitel „S‘enfuir“ bedeutet „entkommen“ oder „fliehen“. In Deutschland heißt das Buch „Geisel“. Wie bist Du damals auf den Titel „S‘enfuir“ gekommen und was denkst Du über den deutschen Titel?
Der deutsche Titel ist dem englischen ähnlich und tatsächlich hatte ich auch überlegt das Buch im Französischen „Otage“ zu nennen. Aber „s‘enfuir“ ist ein Verb, also enthält es diese aktive Komponente. Es klingt aktiver als „Geisel“ und das war mir wichtig, denn er entflieht der Situation ja auch in seinen Gedanken – mit seiner Vorstellungskraft. Er ging kriegshistorische Ereignisse in seinem Kopf durch, um sich abzulenken. Napoleonische Schlachten, um die Zeit totzuschlagen. Das fand ich super! Er flieht in seinem Kopf und schließlich auch wirklich. Das Wort „S‘Enfuir“ trägt diese Doppelbedeutung im Französischen. Ich weiß nicht wie es im Deutschen ist…

„Geisel“ ist bei weitem Dein längstes Projekt. Woran wirst Du jetzt arbeiten, da das Buch abgeschlossen ist?
Ich würde gerne an kürzeren Sachen arbeiten, wahrscheinlich für Kinder. Aber zurzeit bin ich mit Animationen zum „Ratgeber für schlechte Väter“ beschäftigt. Wir wollen da einen kleinen Trailer machen und obwohl es nur 3 Minuten sind, braucht das viel Zeit. Momentan bin ich also wieder beim Trickfilm.

Autorenfoto: LuigiNovi/Wikipedia

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