„Chartwell Manor“ von Glenn Head ist eine verstörende, aber immens wichtige Lektüre – eine brutal ehrliche Erzählung über Missbrauch im Kindesalter und dessen lebenslange Folgen. Glenn Head ist ein US-Independent-Zeichner, der unter Art Spiegelman studiert hat und von Robert Crumb und der Underground-Comix-Szene der 60er und 70er beeinflusst wurde. Jahrgang 1958 hat er ein bewegtes Leben hinter sich, Alkoholismus, Obdachlosigkeit und später dann Auszeichnungen, Ausstellungen, künstlerische Erfolge. In „Chartwell Manor“ erzählt er (zum ersten Mal nach Jahrzehnten des Schweigens) über die Ursache seiner Traumata und Abstürze: sexuellen Missbrauch an einem christlichen Internat im Alter von 13 Jahren und seinem jahrelangen Versuchen, mit seinen Eltern und anderen über die Missbrauchserfahrungen zu sprechen.
„Chartwell Manor“ ist ein Buch über seelische Narben, den lebenslangen Heilungsprozess, und zugleich eine kompromisslose Abrechnung mit einer Gesellschaft, die Täter deckt, Autoritäten nicht hinterfragt und die Opfer im Stich lässt. Wir präsent ieren das folgende Presse-Interview mit freundlicher Genehmigung des Carlsen Verlags.
Lieber Glenn, vielen Dank, dass Du dir die Zeit nimmst, mit uns über dein neues Buch zu sprechen. Da „Chartwell Manor“ das erste Werk von dir ist, das in deutscher Übersetzung erscheint, möchten wir dich zunächst unseren Leser*innen vorstellen. Wie bist du in die Welt der Comics gestoßen? Wann hast du Deine Liebe für Comics entdeckt und wann hast du angefangen, selbst als professioneller Comickünstler zu arbeiten?
So wirklich habe ich meine Liebe zu Comics entdeckt, als ich im Alter von 13, 14 Jahren die Privatschule Chartwell Manor besuchte. Ein Junge, den ich kannte, brachte einige Underground-Comics mit in die Schule; „Zap“, „Snatch“, all diesen verrückt gewalttätigen, pornografischen Stoff, für den ich viel zu jung war, um ihn wirklich zu begreifen! Davor habe ich noch das „Mad“-Magazin gelesen. Aber ein Blick in diese Underground-Comics… es war, als würde die Welt der Comickunst für mich zum Leben erweckt werden. Ich wusste, ich musste unbedingt und ohne Rücksicht auf die Konsequenzen dieser Arbeit nachgehen.
Ich würde sagen, ich begann professionell als Cartoonist zu arbeiten, als ich mein erstes Underground-Comicbuch „Avenue D.“ selbst herausgegeben habe, meinen Comic über Leben und Tod, über Kriminalität und Drogen, über New Yorks Lower East Side. Ich nenne es „professionell“, weil ich selbst dafür gesorgt habe, meinen Comic an Vertreter*innen zu verkaufen, die ihn dann in den Läden platziert haben. Ich war 28 Jahre alt. Aber eigentlich war meine erste selbst herausgegebene Arbeit eine Zeichnung, die ich mit 19 Jahren an den „Playboy“ verkaufte… Also, ja, es wurden auch schon eine gute Anzahl an Illustrationen in verschiedenen Medien veröffentlicht. Verschiedene Dinge.
Wie bin ich in die Welt der Comics eingestiegen? Ich würde sagen, das habe ich Art Spiegelman zu verdanken. Anfang der 1980er-Jahre war er für gut drei Jahre an der School of Visual Arts in New York City mein Mentor. Er hat dort nicht nur strikt alles über Comics gelehrt, sondern hat uns auch gezeigt, wie wir das geschäftliche Ende mitdenken, Anzeigenplätze an Geschäfte zu verkaufen, um eine Printausgabe finanzieren zu können. Ich selbst und andere Künstler, Mark Newgarden, Drew Friedman, Kaz, Paul Karasik, Jayr Pulga, wir alle haben mit diesen Beispielen gelernt, wie wir unsere Arbeit nach draußen tragen können. Ich habe sehr viel gelernt.
In „Chartwell Manor“ gibt es zahlreiche Referenzen zu Robert Crumb, du zeigst selbst den Zeitpunkt, als du das erste Mal in einem Magazin neben Robert Crumb veröffentlicht wurdest. Könntest du uns sagen, was dir Crumb und die Underground-Comix-Bewegung als junger Künstler in den 1970er Jahren bedeutet haben? Wie sehr haben Crumbs Stil und seine Themen deine eigene Arbeit und deine eigenen Geschichten beeinflusst?Crumb hat in Sachen Comics sämtliche Türen gesprengt, weil er der Künstler war, der gezeigt hat, dass alles erlaubt war… Alles, woran Du denken konntest, konntest Du auch zeichnen. Natürlich war es nicht nur Crumb. Aber Robert Crumbs Arbeit war die visuell reizvollste, insbesondere die Cover!
Ich kann nicht in Worte fassen, welchen Nervenkitzel diese Comics in meiner Zeit als Teenager in mir ausgelöst haben. Es war, als würde man alles auf einmal sehen. Alles, was vorher in Comics versteckt war, war plötzlich frei. Crumb hat mich dazu gebracht, so weit zu gehen, wie ich konnte. Es gibt eine bestimmte Ästhetik in Underground-Zeichnungen: eine eigene, originelle Sprache haben (und entwickeln), Grenzen überwinden, nicht auf Nummer sicher gehen, bestmöglich zeichnen und furchtlos meine eigene Geschichte erzählen. Tief in die Dinge hineinsehen. Kein Mitläufer sein. Das ist Robert Crumbs Einfluss auf mich. Und noch eines, und das ist die goldene Regel: Comics können von allem handeln, solange sie unterhalten. Ein Comicheft, eine Graphic Novel, ein Comic-Strip, was auch immer… Es muss unterhaltsam sein.
Wenn wir schon über Einflüsse sprechen – auf deiner Website listest du Künstler, die dich beeinflusst haben, unter anderem Surrealisten und Expressionisten des 20. Jahrhunderts wie Hans Bellmer und George Grosz, auch die Maler der Renaissance Pieter Bruegel und Hieronymus Bosch. Wie viel Inspiration ziehst du aus der klassischen Kunst und wie nimmt sie Einfluss auf deine Arbeit?
Die deutschen Expressionisten Grosz, Beckman und Dix sind sehr spannend, da sie einen unverblümten Blick auf die erschreckendsten Facetten der Menschheit präsentieren. Auch visuell sind sie sehr eigenwillig, das gefällt mir. Sie sind emotional ausdrucksstark. Und sie haben keine Angst, hässlich oder grauenvoll zu sein. Ich bin in diese unbändige visionäre Kunst verliebt, die mich umhaut und dazu bringt, mich zu fragen „Wie zum Teufel ist er darauf gekommen?“. Bosch scheint von alldem ein Vorreiter gewesen zu sein. Stellt euch vor, wie es war, als er das erste Mal wahrgenommen wurde! Auch Bruegel war ein Visionär, aber er scheint mit einem gefühllosen Blick auf das Verhalten der Menschen zu schauen. Tatsächlich gab es bei all diesen Künstlern eine Art Comicheft-Moral – du musst für alles bezahlen, was du im Leben anstellst. Das gefällt mir.
In „Chartwell Manor“ gibt es eine Szene, in der du über eine Zeitung sprichst, die für deine Illustrationen zahlt („Die glauben, es ist Kunst“), aber kein Interesse an deinen Comics („Das ist für sie Klopapier“) zeigt. Ist diese Nichtachtung von Comics eine Einstellung aus der Vergangenheit oder erfährst du weiterhin, dass Herausgeber*innen und Kritiker*innen zwischen Kunst und Comics unterscheiden?Komischerweise gelten Comics trotz der aktuellen Hochglanzaufmachung immer noch als Schund. Es ist Teil der DNA der Comics, die ich liebe – der besserwisserischer Unruhestifter, der gegen die autoritären Figuren stänkert: Das bin ich! Ich war immer selbst dieses Kind, ich konnte nicht anders. Das vorweggesagt, nehme ich das Medium sehr ernst, wenn ich darin arbeite, und ich gebe ihm wirklich alles, was ich habe. Trotzdem haben Comics etwas Absurdes, etwas Lächerliches an sich: Splashpanel, spannende Seitenlayouts! Wie sehr ich das Zeug auch liebe und es zeichne, es macht mich fertig. Aber ich brauche niemanden, der das Medium für mich „hervorhebt“. Comics sind großartig und Comics wissen das.
Nun zu deinem neuen Buch – „Chartwell Manor“ ist eine kraftvolle Selbstreflexion über deine Zeit an dem Internat in New Jersey, in dem du misshandelt wurdest, und über den Einfluss dieser Zeit auf die nachfolgenden Jahre und Jahrzehnte. Könntest du uns von diesem Ort erzählen und die Verbrechen, die dort stattgefunden haben? Wie lange leitete Terence Michael Lynch die Privatschule und warum hat es so lange gedauert, bis sie geschlossen und er selbst vor Gericht gestellt wurde?
Chartwell Manor war eine im britischen Stil gehaltene Privatschule in Mendham, New Jersey, die sich auf problembeladende Kinder spezialisierte; ich war eines. Schule war eine schlimme Zeit für mich als Kind, also wurde ich dorthin geschickt, um „geradegebogen“ zu werden. Die Disziplin war extrem. Schwere, sogar überzogene körperliche Bestrafung war die Norm. Und da die Kinder von Zuhause weg waren, sahen sie in Lynch eine Vaterfigur. Ihr könnt euch vorstellen, was folgte. Er hatte die Auswahl zwischen über hundert Jungen, die er auf verschiedene Weise missbrauchen konnte. Wie albtraumhaft meine eigenen Erfahrungen auch waren, schätze ich mich (fast) glücklich. Ich war für zwei Jahre dort, aber die meiste Zeit konnte ich eine Distanz zu Lynch wahren. Diese Distanz hat mir geholfen, dieses Buch zu zeichnen. „Chartwell Manor“ zu zeichnen, war tatsächlich angenehm. Nicht schwierig.
Lynch hat diese Schule über zehn Jahre geleitet, bevor alles zusammenbrach. Endlich waren genügend Zeugen da, frühere Schüler, die bereit waren, vor Gericht gegen ihn auszusagen. Es hat so lange gedauert, weil Lynch im Grunde eine Art Sektenführer war, der Gedankenkontrolle über die Schüler ausübte.
Ein Großteil des Buches dreht sich um die Auswirkungen des sexuellen und körperlichen Missbrauchs, den du erfahren musstest, auf dein späteres Leben, besonders auf deine Kunst. Du zeigst, wie schwer es für dich war, über deine Vergangenheit zu reden. Wann hast du dich dazu entschieden, deine Geschichte im Rahmen eines Comics zu erzählen? Gab es einen besonderen Grund oder war es einfach die richtige Zeit für dich?Die Wahrheit ist, dass es einfach so lange gedauert hat, bis ich das Gefühl hatte, das Comic-Medium ausreichend zu beherrschen, um dieses Projekt in Angriff nehmen zu können. Wir sprechen hier über einen riesigen Brocken aus meinem Leben, der sich auf mich bezieht, meine Familie, andere Schüler von Chartwell Manor, das ganze Ding. Ich musste sicher sein, dass ich es richtig hinbekomme, bis ins letzte Detail. Wie ich aber gesagt habe, es war nicht schwer für mich, die Erinnerungen zu zeichnen. Es war unterhaltsam. Und als Underground-Cartoonist sehe ich es als meinen Job an, in „schwieriges“ Material einzutauchen. Ich bin auch ein bisschen verrückt, „Was, du glaubst nicht, dass ich das Zeichnen werde? Schau nur zu!“
Die Abschnitte über den Missbrauch an Chartwell Manor sind erschütternd zu lesen, aber was wirklich schockiert, sind die Passagen, in denen du versuchst, deine Eltern zu konfrontieren und über das zu sprechen, was auf der Schule passiert ist, und selbst Jahre nach den Geschehnissen können sie dir kein Mitgefühl, keinen Trost oder eine Reflexion über ihre eigene Verantwortlichkeit anbieten. Hat es dir geholfen, diese Geschichte zu erzählen, um mit deinen Eltern und ihrer Rolle, die sie bei diesen traumatischen Erlebnissen gespielt haben, ins Reine zu kommen?
Nun, ich weiß nicht, ob es mir geholfen hat, ich glaube, ich würde sagen, dass es nötig war. Eine Sache, die ich in dem Buch zu zeigen versuche, ist, dass es in den frühen 1970er Jahren kein Vokabular gab, um über Kindesmissbrauch zu sprechen. Er hat im allgemeinen Bewusstsein nicht existiert. Außerdem hatte Lynch uns gesagt, niemals mit irgendjemandem über das zu sprechen, was in Chartwell Manor passierte. Mein ehrlicher Eindruck allerdings ist, dass Familien als Einheit dazu neigen, an die eigene Mythologie der „Normalität“ zu glauben, sodass es fast zu viel wird, sich damit auseinanderzusetzen, wenn ein Familienmitglied eine Kindheit wie meine hatte. Es ist einfacher wegzusehen. Weniger schmerzhaft. Aber ich möchte nur sagen: Meine Eltern haben mir nie etwas Böses gewünscht und sie hätten nie gewollt, dass solche Dinge passieren, die mir in Chartwell Manor widerfahren sind.
In deinem Buch zeigst du auch die kausale Verbindung zwischen Missbrauch und Sucht – in deinem Fall Substanz- und Sexsucht. Wie bist du in deinem Leben mit diesen Krankheiten umgegangen und welche Rolle spielte deine Kunst bei der Bewältigung der Sucht?Nun, ich habe viel Zeit in solchen Treffen verbracht, bei denen du abhängst, deine Geschichten teilst und danach einen Kaffee trinkst. Ich hatte viel Glück. Es ist wichtig Leute zu treffen, die wirklich nur das Beste für Dich im Sinn haben. Das ist, was ich über die Genesung sagen werden. Gute Leute.
Meine Kunst war ein rettendes Element während meines Lebens, angefangen bei meiner Zeit in Chartwell Manor, teilweise, weil sie mich davor bewahrt hat, in Schwierigkeiten zu geraten, aber auch weil sie mich gelehrt hat, zu beobachten. Alle von Lynchs Angewohnheiten, lustige Sprechmuster in meinem Buch, sie sind alle komplett zutreffend… damit meine ich, dass mir nichts entgeht. Ich bin sehr aufmerksam, das war ich immer, und ich zeichne alles nach bestem Wissen und Gewissen. Das hat mich gerettet. Es hat das Leben lebenswert gemacht. Das Zeichnen hat mir tatsächlich ein Leben gegeben.
Hast du während deiner Arbeit an dem Buch mit anderen ehemaligen Schülern gesprochen und/oder sie konsultiert? Und wie wurde deine Arbeit von den Betroffenen von Chartwell Manor aufgenommen? Hast du Feedback von Leuten bekommen, die deine Erfahrungen geteilt haben?
Nein, ich habe mich mit niemanden während der Arbeit an diesem Buch beraten, das letzte, was ich gebraucht habe, war der Input von anderen ehemaligen Schülern. Das ist meine Geschichte und ich musste sie auf meine Art erzählen. Die einzige Person, die sie gesehen hat, während ich sie geschrieben habe, war meine wunderschöne und brillante Frau, Xeni Fragakis. Sie selbst ist eine großartige Schriftstellerin und war sehr hilfreich während des Schaffensprozesses von „Chartwell Manor“. Sie half mir, es zu formen. Ich bin froh zu sagen, dass das Feedback, das ich von allen bekommen habe, durchweg positiv war. Einschließlich das von ehemaligen Schülern. Obwohl es für manche der Rückkehr zu einem Albtraum glich, glaube ich. Seien wir ehrlich, es ist ein hartes Buch. Es musste so sein!
Nachdem du fünf Jahre an „Chartwell Manor“ gearbeitet hast (und davor mehrere Jahre an dem ebenfalls autobiografischen „Chicago“), interessierst du dich da noch für grafische Memoiren? Wovon wird dein nächstes Projekt handeln?
Ja, ich arbeite hart an einem anderen Memoir, es heißt „Asylum“. Es handelt von diversen verstörenden persönlichen Erfahrungen, einschließlich dem vorzeitigen Tod meines besten Freundes im Alter von 21 Jahren. Auch von Familienkram. Es ist ein Großprojekt!