Wie im Kino mit wildgewordenem Filmvorführer – „Cinema Purgatorio: Code Pru & The Vast“

Große Namen versprechen viel Aufmerksamkeit. Und der Mannheimer Comic-Kleinverlag Dantes hat mit Alan Moore nun wirklich ein Schwergewicht der Comic-Szene in sein Programm aufgenommen: Die von 2016 bis 2019 bei Avatar Press publizierte Anthologie „Cinema Purgatorio“ wurde von Alan Moore herausgegeben, und deren Geschichten erscheinen nun auch auf Deutsch: „Code Pru“ von Garth Ennis und Raulo Cáceres sowie „The Vast“ von Christos Gage und Gabriel Andrade.

Alan Moore und das Cinema haben keine so ruhmreiche Geschichte: Zwar sind die Verfilmungen von Moores populärsten Comics, „Watchmen“, „V for Vendetta“, „From Hell“ und „The League of the Extraordinary Gentlemen“ gar nicht so schlecht beim Publikum angekommen, Alan Moore hingegen hat sich über die Kino-Adaptionen seiner Comics nicht allzusehr gefreut. Aber das „Cinema Purgatorio“ ist ja auch kein Film, sondern vom Kino der 1960er und 70er Jahre nur inspiriert.

Christos Gage (Autor), Gabriel Andrade (Zeichner): „The Vast“.
Dantes Verlag, Mannheim 2020. 116 Seiten. 20 Euro

„Cinema Purgatorio“ begann 2016 als Crowdfunding-Projekt auf Kickstarter – wie übrigens auch ein ganz aktuell ein Projekt von Alan Moore via Kickstarter finanziert wird: „Providence Compendium“. 1.621 Unterstützer*innen trugen 2016 mit 110.333 US Dollar dazu bei, dass „Cinema Purgatorio“ bei Avatar Press gedruckt werden konnte. Die Idee, ursprünglich von Alan Moore und Kevin O`Neill, geht auf die Zielsetzung zurück, eine Horror-Anthologie in Schwarzweiß zu betreuen: „In a world of used ideas spun out into unending single-premise sagas and told in full cyber-enhanced Technicolor, unapologetically we offer up CINEMA PURGATORIO, a black and white horror anthology which reaches for something both new and startling beyond the endlessly recycled characters and concepts of the 60s and the 70s“, so bewarb Moore das Projekt in der Kickstarter-Ankündigung.

Eine Anthologie – ob das eine gute Idee sei, wird Moore in einem Interview im Februar 2016 gefragt, und seine Antwort ist eindeutig: „After all, when has anything memorable in the comic book medium ever emerged from an anthology? Except, obviously, Action Comics. Oh, and Detective Comics. And Sensation Comics and All Star and Adventure Comics. And Will Eisner’s work. And Jack Cole’s. And Mad and the entire E.C. line. And Amazing Adult Fantasy. And Tales of Suspense. And Strange Tales. And Journey into Mystery. And Creepy, and Eerie. And Zap. And the rest of the Undergrounds. And Comics Arcade. And 2000AD. And Warrior. And Viz. And almost all English and European comics. And almost all American comics, even single-character titles, until the 1960s. But other than that, what has the comic book anthology, or the Roman Empire for that matter, ever done for us?“

Nun, Dantes Verlag hat den Anthologie-Effekt durch die abweichende Publikationsweise natürlich zunichte gemacht: Wir betrachten nicht verschiedene Filmschnipsel wie in einem Kino mit wildgewordenem Filmvorführer, sondern lesen die Geschichten in ihrem Handlungszusammenhang von der ersten bis zur 18. Ausgabe, mit der die bei Avatar Press erscheinende Anthologie 2019 eingestellt wurde.

Seite aus „The Vast“ (Dantes Verlag)

Das Kino ihrer Jugend, so Moore und O’Neill, sei die Inspirationsquelle gewesen, und der Verzicht auf Farben solle sich dem Trend entgegenstellen, schlechte Zeichnungen durch Kolorierung zu kaschieren: „While the massive improvement in comic-book colouring, printing, and production techniques over the last thirty or forty years has led to some exemplary pieces of work it has also given artists a lot of places to hide their flaws, in the same way that rambling continuities have provided a lot of cover for the shortcomings of writers.“

Dantes plant nun, die fünf Geschichten, die über die gesamte Publikationszeit hinweg in der Anthologie präsent waren, in Einzelbänden zu veröffentlichen: „Code Pru“ und „The Vast“ sind bereits erscheinen, im Dezember folgt „The Modded“, und im Frühjahr 2021 werden „A More Perfect Union“ sowie die Titelgeschichte „Cinema Purgatorio“ von Alan Moore und Kevin O’Neill (übrigens deren erstes gemeinsames Projekt seit „The League of the Extraordinary Gentlemen“) den Abschluss bilden. 2016-19 erschienen 18 Ausgaben der Anthologie, und „The Vast“ sowie „Code Pru“ gehörten zum festen Repertoire.

„The Vast“ von Christos Gage und Gabriel Andrade

Bei „The Vast“ lässt sich leicht die Traditionslinie hin zu den legendären Monster-Showdowns des japanischen Kinos der 1960er Jahre anstellen: Wirken Godzilla und seine atomverseuchten Artgenossen (Gamera oder Mothra etwa) heute ein wenig behäbig, staksig und dadurch nicht mehr so bedrohlich wie damals, transformieren Christos Gage und Gabriel Andrade das willkürlich mutierte Grauen ins 21. Jahrhundert.

Durch Atomkraft entstellte Monster werden von den widerstreitenden Supermächten abgerichtet und als militärisches Druckmittel im Kalten Krieg verwendet – allzu kalt allerdings ist dieser Krieg längst nicht mehr, beide Seiten lassen die Waffen sprechen. Die amerikanischen Truppen um Janna treffen auf Stan Pons, dem es gelungen ist, die mutierten Bestien zu domestizieren – denn offenbar binden sie sich in jungem Alter an eine geeignete Bezugsperson. Janne wird von einem kleinen Monster als Mutterersatz auserkoren, und so kommt es, dass gerade jenes Babymonster, das schließlich alle anderen an Kraft übertreffen wird, sich an die Hauptfigur bindet.

Garth Ennis (Autor), Raulo Cacéres (Zeichner): „Code Pru“.
Dantes Verlag, Mannheim 2020. 248 Seiten. 29 Euro

Wie alle Babys (dieses heißt übrigens auch „Baby“) wird auch dieses bald groß und zieht mit Janna und den anderen Monsterbändiger*innen in den Kampf. Und diese Kämpfe haben es in sich. Die Schwarz-Weiß-Schlachten sind auch ein Kampf der Leser*innen mit der Fülle der Tentakel, fellbewachsenen Beine oder dornbewehrten Arme: Wimmelbilder mit ein wenig Grusel, der stets an Filmerlebnisse zurückdenken lässt.

Christos Gage erzählt mit viel Humor und Einfühlungsvermögen, verbleibt aber dennoch in den Grenzen des Genres: Der Autor sorgt für Spannung – und auch ein wenig Horror. Wobei: Zuallererst darf man auf den mutierten Maulwurf auch mit einem Schmunzeln reagieren. So absurd diese Story auch klingt, so macht sie ungemein viel Spaß.

„Code Pru“ von Garth Ennis und Raulo Cáceres

Nicht weniger lustig geht es in „Code Pru“ zu: Titelheldin Prudence (Pru) ist angehende Sanitäterin in New York, und die Stadt erweist sich rasch als noch viel verkommener, als wir es in den Nachrichten hören. Zombies, Vampire, Succuben – allerlei lichtscheues Gesindel tummelt sich auf den Straßen.

Während Pru auf den Straßen versucht, die Welt nicht aus den Fugen geraten zu lassen, ist Joe Squidpump bemüht, in einem dunklen Keller allerlei Lovecraft-Lookalike-Horrorwesen in den Griff zu bekommen. Zwischen dem Tentakelgott und Joe bildet sich eine Art Freundschaft aus (Stockholm lässt grüßen), und die Partnerschaft könnte kaum schöner ins Bild gesetzt werden als mit einem unerbittlichen Monopoly-Spiel.

Seite aus „Code Pru“ (Dantes Verlag)

In jeder der 18 Episoden begegnet Pru einem neuen Wesen, das zu bizarr für diese Welt wäre, hätte nicht der britische Autor Garth Ennis („Preacher“, „Punisher“) das Sagen. Mit Raulo Cáceres, der vor allem für seine Koproduktionen mit Warren Ellis bei Avatar Press bekannt ist (z. T. auch bei Dantes Verlag erschienen), hat Ennis einen kreativen Künstler gefunden, der manchmal seltsame Körperproportionen ansetzt, aber das Groteske in herrliche Bilder zu fassen vermag.

Epilog

Die Anthologie wurde im Mai 2019 eingestellt, und es gibt keinerlei Hinweise auf eine Fortsetzung. Da die 18. Ausgabe allerdings mit dem Hinweis „End of Book 1“ abschließt, hat Dantes Verlag die Hoffnung nicht aufgegeben und die Storys mit dem Vermerk „Band 1“ versehen.

Eine besondere Erwähnung übrigens verdienen die Fußnoten des Verlegers: Als mir dessen Annotationsfreude zum ersten Mal bei Jamie Delanos „Outlaw Nation“ unterkam, fand ich viele der Kommentare einigermaßen überflüssig, hier aber wird das Kommentieren beinahe zur eigenen Kunstform, weil es mehr leistet, als nur den Comic zu erläutern. Völlig unnützes, aber umso wertvolleres Wissen versprüht etwa eine Anmerkung in „The Vast“: Hier lernen wir (ziemlich off-topic), dass das deutsche „Katerbier“ im Englischen „hair of the dog“ heißt und sich dort auf die Tradition bezieht, das Haar eines tollwütigen Hundes, der einen gebissen hat, in die Wunde zu legen. Klingt ähnlich überzeugend wie ein Katerbier, ist aber auf jeden Fall als etymologische Anekdote interessant. Man muss kaum Immanuel Kants Rede vom „interesselosen Wohlgefallen“ bemühen, um dieses herrlich nutzlose wie unterhaltsame Dekor als Kunststück zu verstehen – zumal eines, das sicherlich auch den Geschmack Alan Moores getroffen hätte.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.