Lieber Hervé, danke dass du dir die Zeit nimmst, um mit uns über „Grönland Vertigo“ zu sprechen. Die Leser in Deutschland kennen dich vor allem als Zeichner, der die Szenarios von Autoren wie David B., Joann Sfar und anderen umgesetzt hat. In „Grönland Vertigo“ lernen wir dich nun als Szenarist und Zeichner in einer Person kennen. Ist dies das erste Mal, dass du dein eigenes Skript geschrieben hast? Hast du je daran gedacht, auch bei „Grönland Vertigo“ mit einem Autoren zusammenzuarbeiten, oder war dir immer klar, dass du die Geschichte selbst erzählen willst? Wieso lag dir gerade diese Geschichte am Herzen?
Um es genau zu sagen, ist das fast mein erstes „Solo-Projekt“. Ich hatte in meiner beinahe zwanzigjährigen Karriere schon mehrmals die Gelegenheit, mich als Szenarist auszuprobieren, doch trotzdem ist es eine andere Sache, eine Erzählung von 98 Seiten von vorn bis hinten selbst zu schreiben. Ich hatte das Gefühl, wieder Anfänger zu sein, was verunsichernd war, aber nicht unangenehm. Denn schon seit meinen Anfängen träume ich davon, allein zu schreiben. Ich war also begeistert, endlich einmal die Möglichkeit dazu zu haben. Ich habe lange nach einer originellen Geschichte gesucht, doch erst mehrere Jahre nachdem ich im Jahr 2011 an einer Expedition nach Grönland teilgenommen hatte, haben mir meine Freunde (Brüno und Gwen de Bonneval) klugerweise dazu geraten, daraus eine Fiktion zu machen. Ein Glück, dass es sie gibt, sonst würde ich vielleicht immer noch nach einem Stoff suchen! Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich nicht ganz allein gearbeitet habe, denn ich hatte das Glück mit Isabelle Merlet als Koloristin zusammenarbeiten zu dürfen. Ihr Beitrag war sehr wichtig für die Geschichte.
Am Anfang der Geschichte ist der Protagonist Georges verzweifelt darum bemüht, ein neues Buch zu schreiben, bei dem er seit Wochen nicht weiterkommt. Kennst du dieses Gefühl? Wie gehst du mit der Angst vor dem leeren Papier um? Sprichst du mit anderen Autoren, etwa Apollo, über dieses Problem?
Der Gedanke, dass ich nichts zu erzählen habe, „leer zu sein“ wie Georges, ja, das ist eine Situation, die ich viele Jahre gekannt habe. In dieser Hinsicht bin ich nun ein bisschen beruhigter. Auch das Schreiben des Szenarios ist nicht einfach gewesen. Ich bin ganz offen drangegangen und habe ziemlich schreckliche Momente von Niedergeschlagenheit durchlebt. Doch zum Glück bin ich von sehr talentierten Autoren umgeben, an die ich mich wenden konnte, um sie die ersten Versionen des Szenarios lesen zu lassen. Ich denke da an Brüno und Gwen de Bonneval, natürlich auch an Fabien Vehlmann und Cyril Pedrosa. Ihre Ratschläge und Ermutigungen waren sehr wertvoll für mich.
Wann war für dich klar, dass du Comiczeichner werden möchtest? Welche Zeichner haben deine Arbeit beeinflusst?
Schon sehr früh in meiner Kindheit hatte ich das Gefühl, dass das meine Berufung war, und ich habe an diesem Gedanken immer festgehalten, ohne von dem Weg abzukommen, den ich eingeschlagen hatte. Meine Eltern haben meine Leidenschaft immer unterstützt. Meine Mutter und ihre Brüder hatten ein Abo der Zeitschrift „Tintin“, als sie Kinder waren, und ich denke, dadurch wurde ich angesteckt. Das Universum Hergés hat mein Gehirn sehr früh durchdrungen, genau wie das Magazin „Spirou“, das ich bis zu meiner Pubertät abonniert hatte. Danach bin ich zu Tardi, Pratt, Moebius und amerikanischen Comics übergegangen.
Man merkt sofort, dass „Grönland Vertigo“ eine Hommage an Hergé und die berühmten „Tim und Struppi“-Comics ist, sowohl auf visueller Ebene als auch was den Plot angeht. Wieso wolltest du mit deinem Album Hergé Tribut zollen?
Wie schon erwähnt habe ich das Comiczeichnen mit Hergé erlernt. Seine Grammatik und seine Erzählweise haben sich mir unweigerlich eingeprägt. Hergés Universum spukt also in einer Ecke meines Kopfes, wenn ich zeichne, vor allem was die Erzählweise und das Spiel der Figuren betrifft. Als ich an der Expedition in Begleitung von Wissenschaftlern, Künstlern und Seefahrern teilnahm, hat mich die Atmosphäre an Bord außerdem sofort an „Der geheimnisvolle Stern“ erinnert. Und auch ein bisschen an „Flug 714 nach Sydney“, denn einer der Teilnehmer weckte schnell Assoziationen an Laszlo Carreidas in mir. Doch „Grönland Vertigo“ ist auch eine Hommage an den dänischen Autor Jørn Riel, mit dem ich 2011 auf Expedition gegangen bin und von dem ich einige Erzählungen mit Gwen de Bonneval adaptiert habe. Als ich Jørn Riel das erste Mal las, habe ich sofort an die „Tim und Struppi“-Abenteuer denken müssen. Abgesehen davon, dass die Epoche mehr oder weniger die gleiche ist, haben Riels Figuren eine ähnliche DNA wie Tim. Und auch der Humor ist ein gemeinsamer Nenner bei beiden Autoren.
In seinem Testament hat Hergé verfügt, dass „Tim und Struppi“ nicht von anderen Künstlern fortgesetzt werden darf – ist ein Tribut also der einzige Weg, eine „Tim“-artige Geschichte im Geiste Hergés zu erzählen?
Generell finde ich Werke, die sich an ein bereits sehr kodiertes Universum anlehnen, interessanter als reine Nachahmungen. Dennoch verstehe ich aus kommerzieller Sicht auch die Logik der Verlage, die eine „Goldgrube“ ausschöpfen wollen. Natürlich vorausgesetzt, dass ein Teil des Erlöses weiter dazu dient, die Kunst zu unterstützen.
Was macht – jenseits des Stils der „Ligne Claire“ – Hergés Geschichten so überzeugend und zeitlos? Auf was musstest du achten, um sein Werk zu ehren? Was war die größte Schwierigkeit, seinem Geist gerecht zu werden?
Ich weiß nicht, was „Tim und Struppi“ so zeitlos macht. Ich bin kein richtiger „Tim und Struppi“-Fan. Ich hatte einfach Lust, mich mit dem von Hergé entwickelten Code zu amüsieren. Ein bisschen so, als habe er mir sein Zimmer und seine Spielsachen geliehen. Ich habe mir also keine weiteren Fragen gestellt, zum Beispiel, wie ich nicht ins Plagiat abrutsche, aber das Risiko war auch gering. Und was meinen Zeichenstil betrifft, musste ich ihn nur ein bisschen mehr schließen und abrunden. Aber das kam ganz von allein, und ich fand es toll, auf diese Weise zu zeichnen; den „Ligne claire“-Zeichenstil der Figuren mit realistischen Tuschezeichnungen für das Dekor und die Landschaften zu mischen.
Wieso hast du Grönland als Schauplatz für die Geschichte ausgewählt? Wie wichtig war der Umweltaspekt (der im Album vom exzentrischen alten Zeichner Ville Hakkola verkörpert wird) für dich?
Wie ich bereits erwähnte, ist diese Geschichte von einer echten Expedition inspiriert, die hauptsächlich dänische Künstler und Wissenschaftler zusammenbrachte und an der ich das Glück hatte, teilnehmen zu dürfen. Ich habe also drei Wochen in den Fjorden des Nordostens verbracht, genau da, wo Jørn Riel in den 50er Jahren mit den letzten Pelztierjägern lebte. Ich genoss also das Privileg, in Begleitung eines sympathischen Teams in eine atemberaubende und extrem schwierig zu erreichende Gegend zu gelangen. Wie sollte man da keine Lust bekommen, eine derartige Erfahrung zu nutzen und sie zu erzählen?
Was das Thema Umweltschutz betrifft, kann man nicht sagen, dass meine Geschichte sich intensiv damit auseinandersetzt. Dennoch kam ich nicht umhin davon zu sprechen, denn es ist schwierig nicht daran zu denken, wenn man dort ist. Auch, weil ich auf meiner Rückreise einen Franzosen kennengelernt habe, der für eine große Mineralölgesellschaft arbeitete und gerade zwei Wochen die grönländische Küste mit Menschen desselben Milieus erforscht hatte… Da läuft es einem etwas kalt den Rücken runter. Mich persönlich macht die Klimaerwärmung sehr betroffen. Wie viele suche ich Antworten oder zumindest Erklärungen wie in Naomi Kleins Buch „Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima“, dessen Lektüre ich nur jedem ans Herz legen kann. Aber den Gedanken, dass die Kunst den Lauf der Welt verändern könnte, habe ich schon vor Langem aufgegeben. Doch man kann sie neu erfinden, ihr etwas Zauber zurückgeben, ihr einen Tritt in den Hintern versetzen… Und das ist ja auch schon nicht so schlecht, oder?
Was wird dein nächstes Projekt? Wirst wieder eine eigene Geschichte zeichnen?
Mein nächstes Projekt „Le dernier Atlas“ ist eine Alternativweltgeschichte, aber diesmal arbeite ich nicht allein, sondern mit einem tollen Team. Das Szenario stammt von Fabien Vehlmann und Gwen de Bonneval, die Designs sind von Fred Blanchard, und Laurence Croix hat die Kolorierung übernommen. Aber ich habe schon vor, zum Schreiben zurückzukommen. Und wer weiß, vielleicht ist dann wieder Georges Benoît-Jean dabei…
Hervé Tanquerelle: Grönland Vertigo. Avant-Verlag, Berlin 2017. 104 Seiten, € 24,95