Inzwischen hat sich Dylan mit seiner mehr als ungewöhnlichen Situation arrangiert, ja er findet sogar Gefallen daran, genießt seine „Macht“ über Leben und Tod und zieht daraus eine gehörige Portion Selbstbewusstsein, was auch – zumindest kurzfristig – seinem Privatleben zu Gute kommt. Zur Erinnerung: Dylan, der sich eigentlich das Leben nehmen wollte, schloss einen unfreiwilligen Pakt mit einem Dämon: Um sich ratenweise sein Weiterleben zu „erkaufen“, muss er Monat für Monat einen Mord begehen. Einen Menschen töten, der den Tod aufgrund übler Taten „verdient“ hat. Nach dem Ärger mit den Russen (siehe Band 1) klappt das auch ganz gut. Dylan sucht sich seine Opfer – Tierquäler, korrupte Banker, Wirtschaftskriminelle – im Internet oder in der Zeitung und schreitet dann zur Tat, bei der er nach eigener Meinung inzwischen clever und abgebrüht vorgeht. Er hat jedoch keine Ahnung, was sich um ihn zusammenbraut. Denn nicht nur die Russen haben ihn noch nicht vergessen und heften sich durch einen Zufall auf seine Fersen. Auch Lily Sharpe, eine clevere Polizistin mit Spürnase und Kombinationsgabe, macht sich daran, den unbekannten Serienkiller dingfest zu machen…
Wow. Klar, das Faustmotiv, der Pakt mit dem Dämon, muss irgendwann aufgebohrt werden. Immer nur neue Morde schildern, kann die Serie auf die Dauer nicht tragen. Aber was Ed Brubaker („Gotham Central“) und Sean Phillips (mit Koloristin Elizabeth Breitweiser) hier bereits im zweiten Band veranstalten, ist sensationell, sowohl was den Abwechslungsreichtum der Story als auch die optische Präsentation betrifft. Zuerst begleiten wir noch einmal Dylan bei einer seiner Taten. Eine, die fast schiefgeht. Dabei gibt er uns, den Lesern, wieder persönliche Einblicke in sein Innenleben. Er greift vor, blendet zurück, kommentiert sein Tun, er kommuniziert mit uns, ganz so wie das dereinst auf der Leinwand Ray Liotta als Henry Hill in „Good Fellas“ tat. So erfahren wir auch neues aus seinem Privatleben: Das Verhältnis zu Kira, seiner Ex, ist merklich abgekühlt. Auch sein Wohnungsgenosse Mason redet kaum noch mit ihm. Dafür tritt die attraktive Daisy wieder in sein Leben, eine Freundin aus alten Zeiten. Im zweiten der hier enthaltenen US-Hefte treffen wir dann erstmals auf die Ermittlerin Lily Sharpe, die neu in der Stadt ist und dementsprechend als Außenseiterin gilt. Da ihren Thesen und Folgerungen hinsichtlich des Killers niemand glaubt, leakt sie geschickt die Infos bei einem Reporter und stellt den Fall damit in das Licht der Öffentlichkeit.Die folgende Episode, schlicht als „Kiras Blickwinkel“ betitelt, überrascht dann vollends und entpuppt sich als kleines Meisterwerk. Die Handlung verlagert sich nun komplett von Dylan auf Kira und deren komplexe Persönlichkeit. In Form eines Fotoalbums gehen Brubaker und Phillips weit zurück in ihre Familiengeschichte. Dann erfahren wir Genaueres über das unglückliche bis tragische Verhältnis ihrer Eltern und zu ihrer Mutter. Dazwischen verfolgen wir als Zwiegespräch eine Therapiestunde Kiras mit ihrer Psychologin, eine optisch streng getrennte, in gleichgroßen Panels mit jeweils einer der Sprechenden angeordnete Szene, die ganz von den Mimiken und dem Gesprächsinhalt lebt. Und als Kira am Schluss in Dylans Wohnung eindringt, gibt es einen kleinen raffinierten Kniff, der später aufgelöst wird. In den folgenden Heften wird auch nicht mit Action gespart, und als der naive Dylan in eine Falle gerät, wird es richtig dramatisch. Und bevor man den eigentlichen Auslöser der Handlung, den namenlosen Dämon, vergisst, bekommt auch dieser wieder einen markanten Auftritt verpasst.
Natürlich passiert auf den Seiten des Bandes noch viel mehr. Zahlreiche Nebenhandlungen und diverse Cliffhanger verbinden die Story als Ganzes und treiben die Handlung voran. Letztendlich zieht sich das Netz um Dylan immer enger zusammen, und bewundernswerterweise findet er immer wieder einen Ausweg. Ja, wir fiebern mit ihm, mit diesem Mörder, dieser im Prinzip gescheiterten, von Medikamenten abhängigen Figur, die ihr Leben so gar nicht im Griff hat. Einen Anti-Superhelden, der lediglich in seinen Taten Selbstbewusstsein und Anerkennung für und von sich selbst findet und der dennoch nicht aus seiner Haut kann, zumal er von dem Dämon erfolgreich „in Ketten gelegt“ wurde. Zeichnerisch ist der Band ebenso abwechslungsreich inszeniert. So werden beispielsweise wie in Band 1 immer wieder die Panels vom Text getrennt, der dann außen separat zu lesen ist. Ansonsten sorgt Elizabeth Breitweiser wieder für eine stimmige, düstere Farbgebung. All das lässt den Band wie aus einem Guss erscheinen (siehe auch „Criminal“ und „Fatale“, ebenfalls vom Team Brubaker/Phillips/ Breitweiser). Band 3 (von insgesamt 4) erscheint im Oktober. Nur her damit!
Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de
Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.