Wir sind das Vieh – „Der Dschungel“

Upton Sinclairs „The Jungle“, das nach allerlei Versuchen von Verlagen, den Text von „Blut und Eingeweide“ zu reinigen, im Jahr 1906 dann doch in seiner ursprünglichen Form erschien, ist zunächst ein klassischer Einwandererroman. Es geht um eine litauische Familie, die sich im Chicago der Jahrhundertwende durchzukämpfen versucht. Wir erleben den Kampf, die Bereitschaft, sich für noch die kleinsten Chancen zu Tode zu arbeiten, und die verschiedensten Formen, Menschen auszubeuten. Und am Ende nach dem auch moralischen Niedergang des Helden auch seine Wiedergeburt durch den politischen Widerstand.

„The Jungle“ ist auch ein sehr genauer Bericht über die Fleischfabrik als Modellfall des rücksichtslosen Kapitalismus. Blut und Eingeweide der Tiere, Arbeitskraft und Lebenswille der Menschen, dazwischen Maschinen und alles Verdorbene, Kranke und Krankmachende. Sinclairs Beschreibung der Schlachthöfe war zweifellos „skandalös“, ein Akt des Whistleblowing, und führte, nachdem man seine Beobachtungen durch die Regierung Theodore Roosevelts geprüft hatte, zumindest für eine kurze Zeit dazu, dass die Regierung mehr auf Hygiene und Arbeitsbedingungen achtete.

Kristina Gehrmann (Text und Zeichnungen): „Der Dschungel“.
Carlsen, Hamburg 2018. 384 Seiten. 28 Euro

Gewiss: Kaum war die Aufregung um das Buch vorbei, waren auch die Zustände rasch wieder beinahe die alten. Und heute? The Jungle ist nicht nur ein Bericht über verbrecherische Methoden, sondern eine präzise Darstellung des Kapitalismus als System. Was wir „Neoliberalismus“ nennen, ist wohl nicht viel anders als der Schlachthofkapitalismus im alten Chicago. Der Roman ist Pamphlet und Lehrstück. Das Buch endet mit einer sozialistischen Erhebung und dem hoffnungsvollen Satz: „Chicago wird unser sein!“

Naturgemäß steht bei einer Comic-Adaption die Story im Vordergrund. Da ist Jurgis Rudkus, der junge, kräftige, optimistische Mann, der auf alle Schwierigkeiten mit dem Satz antwortet: „Dann werde ich eben noch mehr arbeiten.“ Er nimmt das System zunächst als gegeben hin, was sicher nicht allein daran liegt, dass er schon wegen seiner Sprachschwierigkeiten leicht übers Ohr zu hauen ist. Seine Naivität wird bestraft, eine um die andere Hoffnung wird betrogen, ein ums andere Opfer muss gebracht werden, buchstäblich werden die Menschen in seiner Familie, schließlich auch seine Frau, von der Menschenmaschine der Schlachthöfe umgebracht. Jurgis muss tief sinken, danach beginnt sein politischer Reifeprozess.

Kristina Gehrmann ist eine große Epikerin der grafischen Kunst. In ihrer vierbändigen grafischen Erzählung „Im Eisland“ schilderte sie die Ereignisse der sogenannten Franklin-Expedition. Auf der Suche nach der Nordwestpassage war die Expedition des Polarforschers Sir John Franklin in den Jahren 1845 bis 1848 furchtbar gescheitert, am Ende überlebte niemand von den Teilnehmern. Die Wracks der drei Schiffe wurden erst zu Beginn dieses Jahrhunderts geborgen, zuletzt die HMS Terror im Jahr 2016 südlich der King-William-Insel. Auch in dieser Erzählung geht es der Autorin nicht allein um Abenteuer und Schicksal, sondern auch um eine Form der Analyse. Was war falsch an den Vorstellungen, an dem System, an der Idee dieser so exemplarisch scheiternden Expedition?

Nicht minder analytisch ist ihr Vorgehen bei „Der Dschungel“. Natürlich geht es um den ästhetischen Reiz der grafischen Wiederbelebung historischer Details; die einzelnen Kapitel werden in der Form alter Zeitungen, komplett mit Reklameanzeigen der damaligen Zeit gestaltet, und bei der Darstellung der Schlachthöfe und der Arbeiterbehausungen, der Schiffe und Fuhrwerke, der Maschinen und Kleidungen haben deutlich erkennbar historische Quellen als Vorlage gedient. Aber darüber hinaus geht es auch immer wieder um das Modellhafte und die zweifelhafte Rationalität des Profitsystems. Immer wieder nimmt die Zeichnerin, nach etlichen Panels, die gleichsam in intimer Nähe zu den Figuren entstanden, eine Vogelperspektive ein, um Zusammenhänge deutlich zu machen. Ein wenig erinnert diese grafische Technik an Upton Sinclairs literarischen Wechsel der Erzählzeit zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Bei Gehrmann fliegt man förmlich durch die Handlung. Das kommt daher, weil die Zeichnerin und Autorin mindestens so viel wie von europäischen Semi-Funnies und Traditionen der Ligne claire von japanischen Mangas beeinflusst ist. Auch hier erscheinen Physiognomien oft flüchtig skizziert, die Bildkomposition so, dass die Menschen immer in Bewegung gesehen sind. Und während die Figuren skizzenhaft und auf das Wesentliche reduziert erscheinen, wird den Hintergründen, vor allem den Architekturen und Objekten, die größte Detailgenauigkeit gewidmet.

Zum Manga-Stil gehören auch Seiten nahezu ohne Dialoge, in denen selbst noch die Bildrahmen in Bewegung geraten. Was allerdings die räumliche Wirkung anbelangt, so ist man in „Der Dschungel“ doch wieder näher an der europäischen Erzählweise. Auf diese Art entsteht ein ganz eigener Stil, wie geschaffen für einen Stoff, bei dem die Leserinnen und Leser auch eigene Schlussfolgerungen beisteuern sollen. Sehr zu Recht verzichtet Kristina Gehrmann denn auch auf den pathetischen und agitatorischen Aspekt von Upton Sinclairs Arbeit. Hundert Jahre nach Jurgis Rudkus’ Leidensgeschichte im entfesselten Kapitalismus aktiviert diese Geschichte nur unsere Erfahrungen und Anschauungen. Bemerkenswert ist das schon, wie wenig sich seitdem geändert hat. Und wie immer wieder neue Generationen nachwachsen, die den Weg in die Schlachthöfe des Kapitals gehen und vor lauter bunten Warenverpackungen nicht bemerken, dass sie nicht nur die Kadaver gequälter Tiere, sondern auch ihr eigenes Leben verschlingen. Die Graphic Novel „Der Dschungel“ ist auch ein Anlass, Upton Sinclair mal wieder zu lesen. Nur zum Beispiel neben „The Jungle“ auch „Brass Check“ (Der Sündenlohn). Da beschreibt Sinclair, was der Kapitalismus mit der freien Presse macht. In einem Schlachthof der Wirklichkeiten und der Interessen.

Dieser Text erschien zuerst in: Der Freitag

Hier findet sich eine weitere Kritik zu „Der Dschungel“.

Georg Seeßlen, geboren 1948, Publizist. Texte über Film, Kultur und Politik für Die Zeit, Der Freitag, Der Spiegel, taz, konkret, Jungle World, epd Film u.v.a. Zahlreiche Bücher zum Film und zur populären Kultur, u. a.: Martin Scorsese; Quentin Tarantino gegen die Nazis. Alles über INGLOURIOUS BASTERDS; Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität (zusammen mit Markus Metz); Tintin, und wie er die Welt sah. Fast alles über Tim, Struppi, Mühlenhof & den Rest des Universums; Sex-Fantasien in der Hightech-Welt (3 Bände) und Das zweite Leben des ›Dritten Reichs‹. (Post)nazismus und populäre Kultur (3 Bände). Kürzlich erschien in der Edition Tiamat Is this the end? Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung.