Kampf dem Kapitalismus

Die Geschichte beginnt voller Hoffnung: Eine ganze Familie mit Kindern und Enkeln, Onkel, Tante, Cousins und Cousinen und einem jungen Liebespaar kommen mit dem Schiff vor New York in Ellis Island an, um dem armen Litauen zu entfliehen und in den USA ihr Glück zu machen. Der klassische US-amerikanische Mythos eben – und Kristina Gehrmann zeichnet das in einfachen und geradezu lieblichen Schwarz-Weiß-Bildern, die an japanische Zeichentrickserien wie „Heidi“ erinnern. Tatsächlich ist Kristina Gehrmann Manga-Fan und lässt sich von japanischen Vorbildern nicht nur in Sachen Zeichenstil inspirieren: „Wenn Sie gut gemacht sind, bleibt man ja immer noch. Ich denke, davon können sich viele Comic-Zeichner noch etwas abgucken. Ich glaube, das funktioniert wie bei Fernsehserien – wenn die richtig gut gemacht sind, dann machen die auch süchtig.“

Kristina Gehrmann (Text und Zeichnungen): „Der Dschungel“.
Carlsen Verlag, Hamburg 2018. 384 Seiten. 28 Euro

Kristina Gehrmann ist hörbehindert – kann sich selbst kaum hören und hat deshalb nur schwer sprechen gelernt: „Allerdings ist die Hörbehinderung als Illustratorin nicht im Weg, weil man das Meiste im Internet macht und da muss man die meisten Leute schriftlich überzeugen – und schriftlich bin ich gar nicht so schlecht.“

Das gilt auch für ihre Zeichnungen, die sie allesamt am Computer entwirft. Schon als Schülerin hat Kristina Gehrmann Illustrationsaufträge angenommen und sich damit selbstständig gemacht. Dass sie mit dem „Dschungel“ aber nun ein knapp 400 Seiten starkes Comic-Epos gezeichnet hat, klingt aber schon ziemlich draufgängerisch – zumal klassische Broterwerbsjobs im Call Center oder der Kneipe, mit denen sich andere Comic-Künstler über Wasser halten, für sie nicht in Frage kommen: „Ich konnte mir das nur leisten, weil ich zu dem Zeitpunkt ein paar Ersparnisse übrig hatte. Den Comic hat ja niemand in Auftrag gegeben, das war erst mal mein persönliches Projekt.“

Kristina Gehrmann ist gerade mal Ende 20 – und hat neben Sinclairs „Dschungel“ schon eine dreibändige Comicserie über die gescheiterte Franklin Expedition im arktischen Meer gezeichnet: „Ich finde, dass die Geschichte die besten Geschichten schreibt. Weil: Es passieren einfach viele Dinge, die kann man sich so nicht ausdenken. Außerdem macht es mir auch Spaß zu recherchieren, wie das damals aussah, wie die Leute gelebt haben, wie sie angezogen waren, das macht mir Spaß.“

Mehr als 100 Fotos vom Leben in Chicago und von den Schlachthöfen hat Kristina Gehrmann gesammelt. Bücher über die Schlachthöfe gelesen, in denen damals 25.000 Menschen arbeiteten. Heute ist von dieser ganzen frühen Fleischindustrie nur noch ein einziges Tor übrig – der Comic ist also auch eine Dokumentation eines längst vergangenen Ortes. Und er erzählt den unaufhörlichen Abstieg einer hoffnungsvollen Familie. Weil ein Kaufvertrag für ein Haus unterschieben wurde, der immer neue Kosten und Nachteile mit sich bringt. Weil manche Familienmitglieder nur Arbeit bekommen, wenn sie einen Teil ihres Lohns an Arbeitsvermittler abgeben. Und weil der Hauptverdiener wegen der unmenschlichen Arbeitsbedingungen einen Unfall hat und sofort gefeuert wird. Besonders berückend: Der fatale Glaube, dass nur Leistung zum Erfolg führt, ist bis zum Schluss ungebrochen: „Das war im Grunde die Idee des American Dream. Umgekehrt heißt das für viele Amerikaner aber auch: Wenn jemand etwas nicht schafft, dann hat er sich nicht genug angestrengt. Was aber natürlich ungerecht ist, wenn das System so aufgebaut ist, dass nur bestimmte Leute Chancen haben.“

Bis zum Schluss hält Kristina Gehrmann den naiven Zeichenstil vom Anfang elegant durch – und illustriert so sehr eindringlich die Naivität ihrer Helden. Die die Passagen, in denen der Hauptheld in Sinclairs Vorlage deprimiert durch die Stadt irrt, lässt sie weg und verdichtet so die Geschichte geschickt auf Abstieg und Elend der wohnungslos gewordenen Familie, ohne Sinclairs Roman zu verfremden: „Ich denke, es kommt darauf an, dass man die Original-Botschaft beibehält. Und die ist ja eine Aussage gegen organisierten Kapitalismus, der Arbeiter massenhaft ausbeutet. Und das wollte ich auch ein bisschen vermitteln.“

Dieser Text erschien zuerst auf: Deutschlandfunk.

Hier findet sich eine weitere Kritik zu „Der Dschungel“.

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.