Blockbusterhistorisch ist der Zeitpunkt, an dem die Handlung von „X-Men: Apocalypse“ spielt, sorgsam ausgewählt. Einmal kommt eine Gruppe von Jungmutanten aus einem Kino, wo sie sich gerade „Return of the Jedi“ angesehen haben, den Abschluss der ersten „Star Wars“-Trilogie, die in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern entscheidenden Anteil daran hatte, den Hollywood-Studios zu zeigen, wie viel Geld sich mit Filmen tatsächlich verdienen ließ, und die damit auch den Grundstein legte für die nicht abreißen wollende Schwemme von Marvel- (und anderen Superhelden-)Filmen, die in unserer Gegenwart die Multiplexe dieser Erde füllen.
Nachdem der Prolog ins Jahr 3600 vor Christus entführt, wo im alten Ägypten versucht wird, Apocalypse, den ersten und mächtigsten aller Mutanten, wiederauferstehen zu lassen, spielt sich die Haupthandlung im Jahr 1983 ab, genau ein Jahrzehnt nach den Ereignissen des Vorgängers „X-Men: Days of Future Past“ (2014), in dem Wolverine (Hugh Jackman) per Zeitreise ins Jahr 1973 geschickt wurde, um – in Manier der „Terminator“-Filme – eine wahrlich düstere Zukunft per Eingriff in die Vergangenheit zum Besseren zu wenden.
Apocalypse (in der aufgeblasenen, blauen CGI-Erscheinung weit hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibend: Oscar Isaac) sucht sich seine vier Reiter zusammen – gemutmaßt wird einmal darüber, ob er das aus der Bibel hat oder doch die Bibel von ihm -, um die Herrschaft der Menschen auf Erden endgültig zu beenden und das Zeitalter der Mutanten einzuläuten. Seine Jünger findet er hauptsächlich im Ruhestand, den sie so gestalten, wie es Mutanten, die ihrer Superkräfte müde sind, nun einmal tun: Erik Lansheer alias Magneto (Michael Fassbender) hat es sich mit Frau und Kind in einer Hütte im Wald in Polen gemütlich gemacht. Angel (Ben Hardy) ist tief gestürzt, nutzt seine Flügel zunächst, um in Ost-Berlin (!) vor johlendem und sonderbar subkulturell anmutendem Publikum im Ring harte Kämpfe auszuführen. Später ertrinkt er im Selbstmitleid und einer Flasche Schnaps. Für die X-Men um den an sich und der Welt furchtbar leidenden Professor Charles Xavier (James McAvoy) und Mystique (Jennifer Lawrence) geht es nun darum, den Kampf aufzunehmen und – einmal mehr – die Welt zu retten.„X-Men: Apocalypse“ ist der sechste (inklusive zweier Wolverine-Abenteuer der achte) Eintrag im Franchise, und soll den Handlungsstrang, der mit „X: First Class“ (2011) begonnen wurde, zu Ende bringen. Wo die ursprüngliche Trilogie (2000, 2003, 2006) relativ stringent eine in der „nicht allzu fernen Zukunft“ angesiedelte Geschichte um die ewige Rivalität von Charles Xavier (damals: Patrick Stewart) und Erik Lansherr (Ian McKellen) sowie das immer wieder von verschiedenen Seiten torpedierte Bemühen, Menschen und Mutanten friedlich koexistieren zu lassen, erzählte, verhielt sich der während der Kuba-Krise 1962 spielende „First Class“ dazu noch wie ein relativ gewöhnliches Prequel und endete schließlich mit der Namensgebung der X-Men.
In „Apocalypse“ führt einmal mehr und damit zum vierten Mal bei einem „X-Men“-Film Mal Bryan Singer Regie, der sich in den Neunzigern mit dem schnell zum Kultfilm avancierten Überraschungserfolg „The Usual Suspects“ für Größeres vorstellte. Leider gelingt es Singer diesmal nicht, an die Qualitäten der Vorgängerfilme anzuknüpfen. Die historischen Implikationen – etwa wenn Magneto, Überlebender der Shoah, seine Kräfte in „First Class“ dazu nutzte, alte Nazis, die sich in Argentinien einen ruhigen Lebensabend machen wollen, zur Strecke zu bringen – werden durch lachhafte mythologische Bezüge ersetzt, zum Beispiel, wenn Apocalypso Sätze wie den Folgenden ausspricht: „I’ve been called many things over many lifetimes: Ra, Krishna, Yahweh.“Für das Jahr 1983 interessiert sich der Film nicht die Bohne, wobei das Fight Club-Ost-Berlin einerseits den Gipfel des Desinteresses darstellt; andererseits mündet dieses Desinteresse gerade hier fast schon wieder in etwas Interessantem, weil sich der Film herausnimmt, eine von allen historischen Realitäten gründlich bereinigte Phantasie-Zeit zu erschaffen. Von den Action-Szenen, um die es schließlich in solchen Filmen vornehmlich geht, bleibt nur eine in Erinnerung, in der Quicksilver (Evan Peters) zu den Klängen von Eurythmics „Sweet Dreams“ die gesamte Belegschaft der unter dem Angriff Apocalypses zusammenbrechende Schule rettet – in Sekunden, die tricktechnisch zu Minuten ausgewalzt werden. Eine ähnliche Szene gab es, nicht ganz so lang, aber kaum weniger spektakulär schon im Vorgänger.
Die Kommentare der Jungmutanten zum „Star Wars“-Film fielen mit der etwas zu bemüht cleveren Selbstironie, die vielen jüngeren Blockbustern eignet, dahingehend aus, dass dritte Teile immer die schlechtesten seien. Was das George Lucas-Universum anbelangt, halte ich persönlich zwar „Return of the Jedi“ für den besten der gesamten Serie; zu „X-Men: Apocalypse“ aber passt die Beobachtung wie die Faust aufs Auge. Ganz unironisch.
Dieser Text erschien zuerst am 19.05.2016 auf: perlentaucher.de
X-Men: Apocalypse
USA 2016
Regie: Bryan Singer – Drehbuch: Simon Kinberg, Bryan Singer, Michael Dougherty, Dan Harris – Produktion: Simon Kinberg, Lauren Shuler Donner, Bryan Singer – Kamera: Newton Thomas Sigel – Schnitt: John Ottman, Michael Louis Hill – Musik: John Ottman – Darsteller: James McAvoy, Michael Fassbender, Jennifer Lawrence, Oscar Isaac, Sophie Turner, Nicholas Hoult, Olivia Munn, Evan Peters, Rose Byrne, Tye Sheridan, Monique Ganderton, Alexandra Shipp, Kodi Smit-McPhee, Lucas Till, Lana Condor – Verleih: Fox Deutschland – 143 Min. – FSK: ab 12 Jahre – Kinostart(D): 19.05.2016
Nicolai Bühnemann, Redakteur beim Filmmagazin filmgazette.de, wurde 1980 in einer Inselstadt ohne Palmen geboren. Die Stadt ist lange keine Insel mehr, Palmen wachsen immer noch nicht, aber er lebt immer noch gerne dort; studierte Lateinamerikanistik und Literaturwissenschaft an der FU Berlin. Da Lebenszeit bekanntlich sehr kostbar ist, versucht er möglichst viel davon mit seinen großen Leidenschaften Film und Filmjournalismus zu verbringen.