Im Superhelden-Dickicht

Sechs Empfehlungen aus Paninis „Marvel-Must-Have“-Reihe.

Schon seit einiger Zeit veröffentlicht Panini in Deutschland unter dem Banner „Marvel Must-Have“ eine meist sehr gute Auswahl für sich allein lesbarer Highlights aus dem Haus der Ideen in vergleichsweise günstig, aber durchaus noch wertig produzierter Hardcover-Ausführung. In Pow! – Ein Comicpodcast haben wir bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass die Sammlung eine tolle Gelegenheit ist, sich ein individuelles „Marvel Best-of“ zusammenzustellen, nicht zuletzt deshalb, weil kein durchgängiges Buchrückenmotiv oder eine fortlaufende Nummerierung Sammler mit ästhetischen Ansprüchen dazu zwingen würde, eigentlich uninteressante Titel nur der Vollständigkeit halber zu kaufen. Hier möchte ich in kompakter Form auf jene Titel der Kollektion hinweisen, die ich selbst meiner Auswahl hinzufüge und darum auch gern ausdrücklich empfehle möchte.

Marvel 1602

Das unbestreitbare Highlight der „Marvel-Must-Have“-Bände ist „Marvel 1602“, geschrieben von Sandman-Schöpfer und Fantasy-Legende Neil Gaiman. Dabei verlagert Gaiman die Schurken und Helden des Verlags in ebenjenes Jahr, in dem die besonderen Fähigkeiten der Protagonisten natürlich politisch und religiös ganz anders wahrgenommen und von der Bevölkerung reflektiert werden als in unserer Gegenwart. Einem Autor von solchem Format kann man nicht irgendeinen Zeichner zur Seite stellen, und mit Andy Kubert fiel die Wahl auf einen Künstler, dessen handwerkliche Fähigkeiten der großen visuellen Herausforderung nicht nur gerecht wurden, ermeisterte sie mit erwartungsgemäßer Bravour. Für Grant Morrison bebilderte Kubert unter anderem einen der einflussreichsten, modernen Batman-Runs bei DC. Auch wenn die Folgereihen in der Welt von 1602 nicht mehr ganz überzeugen konnten – dieser abgeschlossene Auftakt sollte in keiner Sammlung fehlen.

Neil Gaiman, Andy Kubert: Marvel Must-Have: Marvel 1602 • Panini, Stuttgart 2023 • 236 Seiten • Hardcover • 29,00 Euro

Spider-Man Blue

Die „Farben“-Reihe des Autoren-Künstler-Gespanns aus Jeph Loeb und Tim Sale (u. a. „Batman – The Long Halloween“) verspricht ansprechend inszenierte, sehr menschliche und emotionale, immer in sich abgeschlossene Geschichten, die sich jeweils einem ikonischen Helden widmen. „Captain America White“, „Hulk Grey“ oder „Daredevil Yellow“ sind ebenso kinoreife, intensive Geschichten wie das hier präsentierte „Spider-Man Blue“. Denn „Blue“ meint hier die Trauer, die Peter Parker auch noch nach vielen Jahren verspürt, wenn er an seine verstorbene Liebe Gwen zurückdenkt. Eine der stärksten, einfühlsamsten und intensivsten Spidey-Storys in traumhaften, bitteren Bildern, die das Prädikat „Must-Have“ völlig zu Recht trägt.

Jeph Loeb, Tim Sale: Marvel Must-Have: Spider-Man Blue • Panini, Stuttgart 2024 • 172 Seiten • Hardcover • 19,00 Euro

Spider-Man Noir

Nach dem riesigen Erfolg der „Spider-Verse“-Trickfilme erlebten die vielen Varianten der freundlichen Spinne aus der Nachbarschaft auch in Comicform eine starke Renaissance. Wie es nun um die Real-Serie mit Nicolas Cage als knurrige Hard-Boiled-Spinne zur Zeit der Prohibition bestellt ist, steht nach dem dramatischen Absturz von Sonys „Madam Web“-Film wohl in den Sternen. Die sehr viel ernstere, abgeschlossene und düstere Noir-Story zu dieser Spidey-Variante verdient aber einen Platz im Marvel-Olymp. Weil sie so weit vom leichtfüßigen, verspielten Original abweicht und dabei starke, ungewohnte Bilder liefert.

David Hine, Fabrice Sapolsk, Carmine Di Giandomenico: Marvel Must-Have: Spider-Man Noir • Panini, Stuttgart 2023 • 116 Seiten • Hardcover • 19,00 Euro

Thanos, Herrscher des Universums

Der beste Grund, sich die Thanos-Story von Venom-Reformator Donny Cates zuzulegen, ist nicht etwa, um einfach über eine weitere Geschichte rund um den wahnsinnigen Titan zu verfügen, sondern vielmehr, um die Ursprünge von Cates abgefahrener Kreation, dem „Cosmic Ghost Rider“, nachvollziehen zu können. Der konnte nämlich wahnsinnig schnell die Gunst der Comicleser erobern und wurde bereits zwei Jahre nach diesem Debüt mit einem eigenen Omnibus-Band bedacht. Den herrlichen Retro-SF-Look von Zeichner Geoff Shaw nahm Cates übrigens kurzerhand mit in sein eigenes Projekt „Crossover“, das in Deutschland bei Splitter erscheint.

Donny Cates, Geoff Shaw: Marvel Must-Have: Thanos, Herrscher des Universums • Panini, Stuttgart 2023 • 188 Seiten • Hardcover • 19,00 Euro

Venom – Netz des Todes

Die Venom-Prämisse des gefeierten Indie-Autors Rick Remender (u. a. „Deadly Class“ und „Low“) klang auf dem Papier gar nicht mal so gut – der amputierte Veteran und ehemalige Highschool-Peiniger von Peter Parker, Flash Thompson, verbindet sich im Rahmen von „Project Rebirth“ mit dem außeriridschen Venom-Symbiont, um als Spezial-Agent für die US-Regierung besonders heikle Aufträge zu erledigen. Dieser neue Venom war am Ende eine ganz andere Figur als das liebgewonnene, hirnfressende Monster mit dem Haifischgebiss. Und vielleicht legte Remenders stets auf authentische Charaktere fokussierte Arbeit genau deshalb den Grundstein für eine Variante der ikonischen Figur, die noch sehr lange, auch in Teams wie den Thunderbolts oder den Guardians, ein wichtiger Bestandteil des Marvel-Kosmos werden sollte. Als alleinstehenden Venom-Titel würde ich persönlich eher das erzählerisch deutlich stärkere „Venom – Dark Origin“ empfehlen, aber als Meilenstein ist die Einführung des Flash-Venom durchaus sinnvoll für die Sammlung.

Rick Remender, Tom Fowler, Tony Moore: Marvel Must-Have: Venom – Netz des Todes • Panini, Stuttgart 2023 • 132 Seiten • Hardcover • 19,00 Euro

X-Force: Sex + Gewalt

Rein inhaltlich ist „X-Force: Sex + Gewalt“ nicht unbedingt das, was man ein „Must-Have“ nennen müsste. Die Story bietet düstere, schwitzige Action mit Femme-Fatale-Faktor, die einfach nicht mitbekommen hat, dass „Dark & Gritty“ zum Zeitpunkt ihres Erscheinens längst nicht mehr gefragt war. Sie wirkt wie ein solides, aber aus der Zeit gefallenes Relikt einer Ära, in der „Matrix“ noch die Kinocharts dominierte. Was bis heute nachhallt sind aber die unangemessen opulenten Malereien von Gabriele Dell’Otto, welche die erzählerisch kompakte Ballerorgie auch heute noch zu einer echten Augenweide machen, die kein bisschen von ihrer Opulenz eingebüßt hat. Ein „Must-Have“ eher fürs Auge, weniger fürs Hirn.

Christopher Yost, Craig Kyle, Gabriele Dell’Otto: Marvel Must-Have: X-Force: Sex + Gewalt • Panini, Stuttgart 2023 • 108 Seiten • Hardcover • 19,00 Euro

Dieser Beitrag erschien zuerst auf: DeinAntiheld.de

Matthias Penkert-Hennig liebt seit frühen Kindheitstagen wilde Fantasy- und SF-Storys. In einer Zeit vor der großen CGI-Revolution fand er solche Epen vor allem in Comicbüchern. 2015 gründete er das Online-Magazin DeinAntiHeld.de. Zudem schreibt für den Tagesspiegel, Panini Comics Deutschland, Comic.de und ist Teil des POW!-Podcast. Darüber hinaus produziert er animierte Video-Trailer für Comics. Sein aktuelles Mammutprojekt ist die deutsche Übersetzung der „Teenage Mutant Ninja Turtles Splitter Collection“.