„Die Welt ist zu groß“, jammert der kleine Junge, der sich unter einer Sintflut nicht mehr verarbeitbarer Sinneseindrücke mitten im Schulunterricht erst in einen Nervenzusammenbruch und dann in eine Abstellkammer gerettet hat. Der Junge ist Kal-El vom Planeten Krypton, der von seiner Herkunft und Schicksal noch nichts weiß, also Clark Kent, der später einmal Superman sein wird, beziehungsweise der titelgebende „Mann aus Stahl“. Sinneswandel als Herausforderung: Dem (beinahe) letzten Überlebenden einer außerirdischen untergegangenen Hochkultur verhilft unsere mutagene gelbe Sonne zur Vollimplementierung jener „extensions of man“ im Sinnesapparat, für die unsereins auf Technologie angewiesen ist. Röntgenblick und überempfindliches Gehör – Trademarks des Superman – sind keine Fähigkeiten, die der zentralsten Figur der modernen Superheldenmythen schmerzfrei in den Schoß gefallen wären, von ihrem souveränen Gebrauch ganz zu schweigen. Vielmehr stellen sie eine Form der sinnlichen Überwältigung dar, die einen aus der Welt zu drängen droht. „Die Welt ist zu groß“, weint der Superjunge in deren letzten Winkel, irgendwo in Kansas. Wie dieser Junge über diese Welt hinauswächst, davon handelt der Film.
Diese Melancholie des guten Jungen ist der Superman-Figur eigen. Ob sich Regisseur Zack Snyder, seit „300“ (2007) und „Watchmen“ (2009) auf wuchtige Comic-Opern mit Hang zum Stock im Arsch abonniert, bewusst war, dass er mit dieser Szene auch die Situation seiner Zuschauer illustriert, sei dahingestellt. In schlechtem, da nachträglich konvertiertem und dementsprechend ästhetisch dämlich unnützem 3D haut einem „Man of Steel“ jedenfalls im Dauerfeuer die Kataklysmen um die Ohren, dass es sich gewaschen hat, bis man slightly shell-shocked aus dem Kinosaal wankt. Was den Film mit großer Autorenfilmkunst anbändeln lässt – eine zumindest unter den Bedingungen eines klassischen Sommerblockbusters erstaunlich komplex in der Zeit springende Erzählweise – entpuppt sich rasch als Entschuldigung dafür, die ärgerlichen dramaturgischen Füllsel der Geschichte, wie der Superman in die Welt kam, auszusparen und stattdessen ohne Reue einen Weltenbrand an den anderen zu reihen: Krypton steht in Flammen und geht darnieder, wenig später nimmt es ein junger Superman mit einer ganzen kollabierenden Bohrinsel auf, Schnitt in die Kindheit, wo ein Schulbus aus den Fluten gerettet werden muss. Es ist ein bisschen so, als hätte Terrence Malick seine Nase tief in raue Mengen besten Kokains gesteckt und einen hyperaktiven „The Tree of Life“ gedreht, in dem sich ein nostalgisch verklärter Alter Westen der USA – mittendrin als Supermans Adoptivater: ein alter Kevin Costner – mit dem urban-apokalyptischen Blockbuster der letzten Jahre vermählt. Und Komponist Hans Zimmer setzt dazu Donnerschläge ab, mit Anweisung an den Vorführer: Alles bitte extra laut.Die schwelgerischen Panoramen, das Innehalten im Moment glückseliger Erhabenheit, wenn Superman die ihm erreichbaren Perspektiven auf den Globus austestet – jene Inseln, in denen Superman eins mit sich (oder allein bei sich) ist und die man aus früheren Superman-Adaptionen kennt, weichen einem allumfassenden Modus hektischer Dringlichkeit, der sich auch an der unstet verwackelten Kameraführung ablesen lässt. Wie kein anderer Superman-Film porträtiert dieser seine Titelfigur als Jungen vom Land, der erst ganz zum Schluss als bebrillter Clark Kent in der Großstadt ankommt – vom geruhsamen Landleben aber keine Spur. „Man of Steel“ fetischisiert in einer sonderbaren Mischung aus Lust und Kasteiung die Untiefen machistischer Allmachtsfantasien.
Nicht, dass dieses neue Niveau eines modernen Affektkinos ohne Reiz wäre: Wohl noch nie zuvor in der Filmgeschichte hat ein Superheldenfilm derart plausibel ästhetisch auf den Punkt gebracht, was es heißt, wenn Kräfte, wie sie Superman eigen sind, auf eine Welt treffen, die nach Maß des Menschen eingerichtet ist (nicht, dass dies wirklich neu wäre: Gerade im Superman-Fandom und in Underground-Comics trifft man immer wieder auf wilde Spekulationen, welche Folgen welche körperliche Entgleisungen – vom Husten über Furzen bis hin zur Ejakulation – für die übrige Menschheit hätten): Wenn dieser Franchise-Neustart das Wort „Superman“ in Titel und Film auffällig umgeht, liegt das nicht allein daran, dass in der Bezeichnung „Superman“ immer auch das peinliche, nicht zuletzt leicht schwule Erbe der Naivität frühester Superheldengeschichte mitschwingt, sondern auch daran, dass Snyder und sein Team den „Mann aus Stahl“ als solchen vollkommen und wahrscheinlich zu ernst nehmen: Dieser Superman ist ein Geschoss, ein Bolide von nie gekannter Durchschlagskraft. Arktische Bergkuppen durchschlägt er noch im Taumelflug, wenn er von seinen Gegnern – bösartige Militaristen seines Heimatplaneten, die dessen Katastrophe in der Verbannung überlebt haben und sich nun, während sie ähnliche Kräfte entwickeln wie Superman, die Erde untertan machen wollen – mit aller Kraft durch die Welt geschleudert wird, schlägt das jede Abrissbirne ums Vielfache. Und man fragt sich, warum sich gerade der Erdboden angesichts solcher Wucht als so überraschend widerständig erweist, wo doch selbst die Meisterleistungen der Ingenieurskunst vor diesem Rammbock to end all Rammböcke zerstieben wie vom Windhauch aufgewirbelte Asche. Snyders Hang zur Gigantomanie entgrenzt sich in „Man of Steel“ endgültig in blanke Vanitas. War es noch als solcher goutierbarer alberner Käse, dass Superman in der ersten gültigen Stoffadaption von 1978 die Zeit alleine dadurch zurückdrehte, dass er im Affentempo um die Erde sauste und diese sich entgegengesetzt um die eigene Achse drehte, legt Synder mit maximaler Grimmigkeit – Produzent: Christopher Nolan, der mit ähnlicher Grimmigkeit gerade seine drei Batman-Filme in die Filmgeschichte gesetzt hat – die als New-York-Chiffre leicht erkennbare Superman-Stadt Metropolis auf eine vollumfängliche und durch Mark und Erdkern gehende Weise in Schutt und Asche, wie man das bislang selten – auch nicht vergangenes Jahr im dahingehend vergleichbaren „Avengers“-Film – gesehen hat. Ohne weiteres pflegt Snyder die Ikonografie vom Anschlag auf das World Trade Center ins Geschehen ein – nicht nur, wenn Hochhaus um Hochhaus in die Horizontale kippt, sondern auch, wenn Leute in Panik vor den durch die Straßenschluchten jagenden Staubwolken dieses Niedergangs fliehen und verschüttet werden.Es sind vielleicht die verquersten Bilder, die das Blockbusterkino in diesem Jahr bislang zutage gebracht hat: Nicht nur ergibt Supermans Tragik – um zu siegen, muss er seinen Gegner töten, was ihm gar nicht in den Codex passt – herzlich wenig Sinn, da er wie irre eine ganze Stadt zerlegt, wenn er seinen Kontrahenten Zod (Michael Shannon) durch ganze Reihen von mutmaßlich nicht evakuierten Wolkenkratzern schleudert, es handelt sich auch um den Fall ungeheurer Hybris: Nachdem man ausgiebig im Bilderkanon der frühesten Katastrophe des 21. Jahrhunderts gebadet hat, wird diese allumfassende Zerstörung noch zum historischen Sieg umgedeutet. Es hat den Anschein, als gelangt mit „Man of Steel“ ein weiteres Kapitel der US-amerikanischen Traumabewältigung im Kino an ihr logisches Ende. Dafür sitzt der Schock der Überwältigung publikumseitig lange in den Knochen.
Dieser Text erschien zuerst am 19.06.2013 im: www.perlentaucher.de
Man of Steel
USA, Kanada 2013
Regie: Zack Snyder – Drehbuch: David S. Goyer – Produktion: Christopher Nolan, Charles Roven, Deborah Snyder, Emma Thomas – Kamera: Amir Mokri – Schnitt: David Brenner – Musik: Hans Zimmer – Darsteller: Henry Cavill, Amy Adams, Russell Crowe, Kevin Costner, Diane Lane, Michael Shannon, Christopher Meloni, Laurence Fishburne, Jadin Gould, Ayelet Zurer, Dylan Sprayberry, Tahmoh Penikett, Antje Traue, Michael Kelly, David Paetkau – 143 Minuten – Start (D): 20.06.2013 – FSK: ab 12 Jahren
Thomas Groh, Jahrgang 1978, lebt seit 1997 in Berlin, ist Redakteur bei Deutschlandfunk Kultur und schreibt u. a. für die taz, den Tagesspiegel, den Perlentaucher und weitere Medien über Filme. Im Netz anzutreffen ist er in seinem Blog und auf Twitter.