Ein Orwell-Update – „Schloss der Tiere“

Hart geht es zu auf der Farm, die irgendwann von den Menschen verlassen und sich selbst überlassen wurde. Farm trifft es ohnehin nicht ganz, eher eine Burg scheint man sich da errichtet zu haben, bevor aus nicht näher erklärten Gründen die Herrschaft an die Tiere überging. Dabei hat sich eine gnadenlose Hackordnung herausgebildet, in der buchstäblich das Recht des Stärkeren gilt.

Xavier Dorison (Autor), Félix Delep (Zeichner): „Schloss der Tiere, Band 1: Miss Bengalore“.
Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter Verlag, Bielefeld 2020. 72 Seiten. 17 Euro

Unangefochtener Herrscher ist der Stier Silvio, der mit eiserner Hand regiert und mit Hilfe seiner Miliz aus geifernden Doggen ein wahres Terrorregime errichtet hat. Auf kleinste Verfehlungen steht der Tod am Gerichtspfahl, während die Tage in endlosen Arbeitseinsätzen auf den Feldern ringsum das Schloss dahinziehen. Gesammelt wird alles – angeblich – im zentralen Vorratsspeicher, woraus die Herrscherclique dann großmütig Lebensmittelrationen gegen zu Währung umfunktionierte Knöpfe verkauft.

Mittendrin ist dabei die Katze Miss Bengalore, die ihre zwei Kinder allein durchbringen muss und auf der Baustelle eine Arbeit verrichtet, für die sie eigentlich viel zu schwach ist. Eines Tages allerdings kommt eine Wanderrate ins Schloss und veranstaltet ein Schattenspiel um ein kleines, bebrilltes Männlein, das in einem fernen Land einen mächtigen König zu Fall brachte – ohne Gewalt, nur mit zivilem Ungehorsam. Die anwesenden Aufpasser aus der Miliz erkennen sofort das aufrührerische Potenzial und jagen die Ratte fort, aber Miss B. rettet den Gaukler namens Azelar Graugreis und versteckt ihn auf einem vergessenen Dachboden. Dort lauscht sie gemeinsam mit dem Hasen Caesar, mit dem sie sich widerwillig anfreundet, der gewagten Theorie der Ratte: Nicht Gewalt könne das Regime von Silvio stürzen, aber die Lächerlichkeit und der Humor. Und so machen sich Miss B. und einige wenige Mutige auf die gefährliche Mission, den Herrscher zu verunglimpfen – was natürlich massive Repressionen zeitigt…

„Alle Tiere sind gleich – aber einige sind gleicher“, diese zentrale Erkenntnis eines korrumpierten kommunistischen Experiments steht im Kern von George Orwells „Animal Farm“, jener Fabel, auf die Szenarist Xavier Dorison im Titel „Schloss der Tiere“, in Handlungselementen und auch im Vorwort ganz explizit Bezug nimmt.

Xavier Dorison (Autor), Félix Delep (Zeichner): „Schloss der Tiere Band 1 – VZA“.
Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter Verlag, Bielefeld 2020. 80 Seiten. 69 Euro

Der von diversen Regimes enttäuschte Sozialist Orwell lieferte 1945 mit seinem Gleichnis eines Bauernhofs, den die Tiere übernehmen, eine bittere Metapher für die immergleichen menschlichen Schwächen. Die vermeintliche Gerechtigkeit schlägt in Tyrannei um, einige wenige schwingen sich zur Herrscherkaste auf, die unter dem Deckmantel von hohlen Phrasen das längst nicht mehr herrschende Volk für sich schuften lässt und sich selbst dabei trefflich bereichert. Das klappte nicht nur in Russland hervorragend, auf das Orwell direkt anspielte und seine Allegorie selbst als „Satire gegen Stalin“ beschrieb; auch andere, bevorzugt „demokratisch“ oder „Volksrepublik“ benannte Konglomerate von der Couleur einer DDR, Nordkoreas oder Kongos drifteten stets in ähnliche Richtungen ab.

In Xavier Dorisons symbolischem Schloss spielen sich die gleichen Mechanismen ab: Das Volk wird bewusst kurz gehalten, angebliche Ernteausfälle dienen nur dazu, die Tauschgeschäfte des Königs zu finanzieren, der regelmäßig alle Erzeugnisse der Farm auf einen Wagen packt und draußen auf dem Schwarzmarkt gegen Champagner und Kaviar tauscht.

Entgegen dem pechschwarzen Zynismus, den Orwells Fabel (und schließlich auch sein Hauptwerk „1984“, das kurz nach „Animal Farm“ entstand) kennzeichnet, lässt Dorison zumindest ein Fünkchen Hoffnung zu. Das Silhouettenspiel der Wanderrate ist unschwer als Verweis auf Gandhi zu erkennen, der nur durch passiven Widerstand und die „Macht der Wahrheit“ das Joch der englischen Kolonialisten abwarf. Dazu passt auch die Protagonistin, deren Name auf Bangalore – eine der wichtigsten indischen Metropolen und einer der zentralen Stützpunkte der East India Company – anspielt. Und sogar ein bisschen Humor darf sein: Der Hase Caesar (bitteschön!) verdient seine Karotten als Rammler, der reihenweise gelangweilte Hausfrauen-Häsinnen beglückt, aber sich allmählich als durchaus verantwortungsvoller Held bewährt. Das ist doch auch eine Karriere! Band 2 (von 4) ist schon in Arbeit und kommt im Januar nächsten Jahres.

Dieser Text erschien zuerst auf Comicleser.de.

Holger Bachmann ist Autor diverser Bücher und Aufsätze zur Film- und Literaturgeschichte. Neben dem Comicleser.de schreibt er auf kühleszeug.de über Konzerte und geistvolle Getränke.

Seite aus „Schloss der Tiere“ (Splitter Verlag)