Semjon Iwanowitsch Newsorow ist ein bedeutungsloser Buchhalter – und er ist der Schwindler in dieser Geschichte. Sein Antrieb: Er will reich und berühmt werden. Eine Wahrsagerin sagt ihm dieses Schicksal tatsächlich voraus, für den Fall, dass die Welt um ihn herum ins Chaos stürzt. Von da an wartet dieser Buchhalter regelrecht darauf, dass der Staat zusammenbricht.
Pascal Rabaté hat den Buchhalter als hageren Typen mit spitzem Gesicht gezeichnet, das immer ein bisschen zu zerfließen scheint, so als würde der sich jeder Situation ganz geschmeidig anpassen. Und tatsächlich hat dieser Typ überhaupt keine Haltung, er ergreift nicht mal Initiative, sondern mogelt sich immer wieder durch Situationen, aus denen er oft noch reicher hervorgeht.
Sein erstes Vermögen ergattert er von einem Antiquitätenhändler, der Kunstschätze von Ausländern billig kauft, die Russland während der Unruhen verlassen. Der Buchhalter kommt zufällig vorbei, als dieser Händler ausgeraubt wird – und hilft nicht etwa, sondern erschlägt den Gefesselten mit einem Schrank und nimmt das Barvermögen mit, das die Diebe übersehen haben. Später beteiligt er sich an einem illegalen Spielsalon, er wird Großgrundbesitzer in der Ukraine, die damals noch eigenständig war und dann ein Spitzel für die Zaristen. All dies tut er ohne rechte Überzeugung – und ohne auch nur einen Funken Durchblick zu haben.Eine Erinnerung an aktuelle Flüchtlingsschicksale
„Der Schwindler“ zeigt eine Welt im Umbruch, durch die sich alle nur so durchlavieren. Der Buchhalter entscheidet sich sogar ständig falsch: Er kauft sich vom ersten Vermögen einen Adelstitel – den ihm wegen mangelnder Lässigkeit eh niemand abnimmt – und kurze Zeit später ist Revolution und der Adel wird gestürzt. Das Landgut ist gerade gekauft, schon marschieren die Bolschewiken in die Ukraine ein und es ist vorbei mit dem mondänen Eigentum. Allein durch Glück und seine unglaubliche Skrupellosigkeit gewinnt dieser Buchhalter immer wieder Oberwasser. Genau dieser Irrsinn macht den Reiz dieser Geschichte aus.
Daneben zeigt Rabaté auch eindrucksvoll das Elend, das die Revolution in Russland gebracht hat – den Hunger in der Bevölkerung und die vielen Ströme von Menschen, die vor den Gräueln der Kommunisten fliehen. Am eindrucksvollsten war für mich ein Flüchtlingsschiff, das in Odessa abgelegt hat. Da haben nur die Reichen und die mit den besten Beziehungen einen Platz bekommen. Und im Laufe der Reise werden die immer ärmer und verwahrloster, weil das Schiff nicht im vorgesehenen Hafen anlegen darf, die Flüchtlinge müssen erst einmal auf Inseln in Quarantäne, weil sie als unsauber gelten. Nachdem die Kleider desinfiziert wurden, sind sie nur noch Lumpen. Und überall müssen die Flüchtlinge für die schlechtesten Unterkünfte viel Geld bezahlen. Das erinnert an aktuelle Flüchtlingsschicksale.
Ein meisterhaftes Porträt
Auf der Bildebene zitiert Rabaté immer wieder Künstler, vor allem aus den zwanziger Jahren, aber nicht nur: Die schrägen Typen sind mitunter so verzerrt gezeichnet, vor allem bei wilden Drogenpartys, dass sie auch von Otto Dix stammen könnten. Das Elend der Menschen hätte auch Käthe Kollwitz zeichnen können. Manches wirkt surreal – und was ich ganz witzig fand: Bei einer intimen Unterhaltung rauchen im Hintergrund Fabrikschlote, als wäre das ein Bild des sozialistischen Realismus.Trotz aller unterschiedlichen Stile wirkt der Comic doch wie aus einem Guss. Weil Rabaté dem eine einheitliche Farbigkeit verpasst hat, nämlich ausschließlich Schwarz-weiß und Grautöne – und weil er für den „Schwindler“ einen ganz eigenen Stil entwickelt hat, in den er die künstlerischen Zitate integriert: Er spielt etwa mit der Wirkung von Licht – es gibt Bilder, da wirkt der Buchhalter sanft, weil ihn das Licht von hinten wie ein Heiligenschein umschmeichelt. Dann wieder fällt Licht so expressiv ins Bild, als würde gleich Nosferatu um die Ecke kommen. Und gerade der Wechsel diese Bilder bewirkt große Verunsicherung. Rabaté hat mit „Der Schwindler“ ein wirklich meisterhaftes Porträt einer Welt gezeichnet, die aus den Fugen gerät.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 11.10.2018 auf: kulturradio rbb
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.