Da erlebt man doch was, im Krieg! – „Die letzten Tage der Menschheit“

Hatten Sie gestern beim Zeitunglesen auch wieder, wie fast jeden Morgen, das unbestimmte Gefühl, der Leitartikel sei vom Pressesprecher der Regierung verfasst worden? Und ein wenig Angst und eine leichte Übelkeit beim Betrachten der Laiendarsteller, die sich da auf den Fotos im Händeschütteln und Um-die-Wette-Grinsen üben und die vorgeben, Garanten „unserer Demokratie“ zu sein? Tja, wer kennt das nicht? Eitle Politiker und Militärs, die in den Kitsch- und Klatschblättern permanent eine geradezu groteske Selbstinszenierung betreiben. Sich selbst so bezeichnende Kulturschaffende, die sich jederzeit der Politik und den Medien andienen, indem sie brav exakt den Sermon nachbeten, den ihnen eine Woche zuvor Politik und Medien vorgekaut haben. Geistliche, die Waffen segnen, und weltliche Würdenträger, die diese hernach zum Segen für die Welt erklären. Kriegsberichterstatter bzw. embedded journalists, für die der Krieg nichts anderes ist als ein Anlass, patriotische Verse und Edelkitschprosa zu dichten. Ein liebedienerisches, kriecherisches, zu jeder denkbaren Schweinerei bei Fuß stehendes Pressewesen, das – nicht nur aus Profitgier, sondern auch weil es es nicht anders weiß und nicht anders kennt – den Voyeurismus, die Sensationsgier und sämtliche Ressentiments der Leserschaft bedient. Und schließlich – nicht zu vergessen – das Gros der gebildeten Zeitungsleser, die jede hohle Phrase dankbar nachplappern und das Wiedergekäute am Ende für einen Gedanken halten, womöglich gar für ihren eigenen.

Reinhard Pietsch (Autor), David Boller (Zeichner): „Die letzten Tage der Menschheit“.
Utzverlag, München 2014. 200 Seiten. 20 Euro

Die Antwort lautet: Alle kennen diesen Zirkus. Schließlich erleben wir ihn täglich, sind jeden Tag als Zuschauer, Zirkusäffchen oder Artisten daran beteiligt. Und er wird nicht nur gegenwärtig aufgeführt, sondern spielte sich auch schon vor hundert Jahren so ab, zur Zeit des Ersten Weltkriegs.

Der österreichische Sprachkritiker und Schriftsteller Karl Kraus hat seinerzeit, zwischen 1915 und 1922, über genau diesen allgegenwärtigen Zirkus ein mehr als siebenhundert Seiten umfassendes Drama geschrieben, das zugleich satirische Chronik ist, „Die letzten Tage der Menschheit“. Darin geht es um all das, was neben dem Töten und dem Sterben die normalen Begleiterscheinungen des Krieges sind, aber auch in sogenannten Friedenszeiten nicht ausbleibt: Propaganda, Hysterie, nationaler Größenwahn, Rassismus, Prahlerei, Pathos, Kitsch, Dummheit, Heuchelei, Korruption. Um alles also, was so den lieben langen Tag geschwätzt und geschrieben wird, während anderswo unablässig fürs Vaterland getötet und gestorben wird. „Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt wurden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.“ (Karl Kraus) Der Autor selbst spricht zuweilen – in den Dialogen mit der Komplementärfigur des „Optimisten“ – aus der Figur des „Nörglers“: „Mit unseren Feinden haben wir nur die Dummheit gemeinsam, einen und denselben Gott für den Ausgang des Kriegs verantwortlich zu machen, statt uns selbst für den Entschluss, ihn zu führen.“

Reinhard Pietsch und David Boller hatten nun die einigermaßen bizarr anmutende Idee, aus Kraus’ ebenso schwarzem wie komischem Gesellschaftspanorama eine Graphic Novel zu machen. Das ist in etwa so, als wolle man aus Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ eine Trickfilm-Vorabendserie machen. Nun ja, womöglich hat das ja auch bereits jemand gemacht.

Was Kraus dazu gesagt hätte, dass sein monumentales Schauspiel, das anhand des Weltkrieges „das ganze Spektakel der menschlichen Mikrobosheit“ (Peter von Matt) abbildet, nun in einer Comic-Version vorliegt, mit der das Theaterstück auf seine „Kernaussagen fokussiert“ (Pietsch) werden soll, kann man nur ahnen. Womöglich nichts Freundliches.

Seite aus „Die letzten Tage der Menschheit“ (Utzverlag)

Er müsse bekennen, so schrieb Kraus einmal, „dass ich mich eigentlich nur in meine eigenen Bücher vertiefen kann und auch nur, solange sie noch nicht erschienen sind“. Bereits zu der Übersetzung eines literarischen Werks in eine andere Sprache hatte er eine keine Fragen offen lassende Ansicht: „Wozu übersetzen? Es heißt eine Fliege mit zwei Schlägen treffen.“

Jetzt ist aus seinem Drama eine Sammlung von kleinen, dem Stil von Manga-Comics nachempfundenen Schwarzweiß-Bildergeschichten geworden, deren größte Stärke tatsächlich die Kraus’schen Dialoge sind, die erfreulicherweise samt ihrer Austriazismen unverändert übernommen wurden. Auf einem Panel etwa ist ein aufgebrachter Mob zu sehen, der Fensterscheiben einwirft und einen Ladenbesitzer verprügelt („Nieda mit dem serbischen Gurgelabschneider!“), auf den danach folgenden Panels ist ein danebenstehender Historiker zu betrachten, der die Szene beobachtet und dabei räsoniert: „Ei sieh! Eine patriotisch durchglühte Menge, die in maßvoller Weise ihren Gefühlen Ausdruck gibt.“

Oder man denke an den Offizier an der Front, der sich bei der Kriegsberichterstatterin Schalek über seinen Alltag beklagt: „Ja wissen Sie, wenn man nur wenigstens alle heiligen Zeiten einmal einen Urlaub bekäme!“ Darauf die Kriegsreporterin: „Aber dafür sind Sie doch durch die stündliche Todesgefahr entschädigt, da erlebt man doch was!“

Dass Kraus’ Tragödie bzw. Komödie – so genau ist das hier nicht immer scharf zu trennen – keine herkömmliche dramatische Handlung aufweist, sondern aus einer mehr oder weniger losen Aneinanderreihung zahlreicher Einzelszenen besteht, hat ihre Übertragung ins Format eines Comics jedenfalls erleichtert. Es ging hier offenbar nicht darum, das gesamte Drama, das seinen Witz aus einer umfassenden Ideologie- und Sprachkritik bezieht, mit Bildern nachzuerzählen, was ein Ding der Unmöglichkeit ist, sondern vielmehr darum, einzelne Dialoge und Szenen zu illustrieren. Was in erstaunlicher Weise gelingt.

Zwar geht es in den gezeichneten Episoden oft wenig turbulent zu, doch liegt das in der Natur des abzubildenden Gegenstands: Man hat es ja bei den Figuren überwiegend mit Adligen, Militärs, Politikern, Journalisten, Bürgern zu tun, die die Szenerie betreten, den anderen gegenüber bewusstlos die Ideologie, mit der sie vollgesogen sind, von sich geben, sich in tautologischem dummem Geschwätz und Maulheldentum ergehen und so ihre Beschränktheit ausstellen. Was kann man da im Comic anderes zeigen als mal mehr, mal weniger statisch wirkende Oberkörper und Köpfe im Gespräch.

In einem Glossar werden dem Leser dankenswerterweise historische Figuren und Orte erklärt, eine Liste mit Worterklärungen bietet Übersetzungshilfe für all jene, die nicht wissen, was es im einzelnen mit einem Drahdiwaberl, einem Gustomenscherl und einem Renngigerl auf sich hat. Wer dann immer noch nichts von den Dialogen versteht, der sitzt in der Scheißgassen.

Dieser Text erschien zuerst am 13.09.2014 in: Neues Deutschland

Thomas Blum, Jahrgang 1968, arbeitet seit 1999 als freier Autor für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften (u. a. Konkret, Berliner Zeitung, Stadtrevue Köln). Von 1999 bis 2011 war er in der Redaktion der linken Wochenzeitung Jungle World tätig. Seit 2013 ist er Redakteur im Feuilleton der Tageszeitung Neues Deutschland.

Seite aus „Die letzten Tage der Menschheit“ (Utzverlag)