„Im Taxi lassen die Leute die Masken fallen…“

Während eines finanziellen Engpasses klemmte sich Frank Schmolke 2014 wieder hinters Taxisteuer; zwischen den Fahrten entstanden erste Skizzen für „Nachts im Paradies“. Im Presse-Interview, das uns freundlicherweise von der Edition Moderne zur Verfügung gestellt wurde, spricht der gebürtige Münchner über die Entstehungsgeschichte, seine Zeit als Taxifahrer und die Schattenseiten seiner Heimatstadt.

Lieber Frank, „Nachts im Paradies“ ist erst deine zweite umfangreichere Veröffentlichung nach „Trabanten“ 2013, aber du bist schon lange in der Szene aktiv, hast u. a. in den 1990ern die Münchner Comic-Magazine Tentakel und Comicaze mitbegründet. Kannst du uns eingangs ein bisschen über dich und deine Comicsozialisation erzählen? Wie kamst du auf den Comic und was hat dich zu dem Medium und dieser Arbeit hingezogen?
Als Kind war ich geplagt von zahlreichen Allergien und lag deshalb zeitweise viel im Krankenhaus. Mein Vater hat mir bei Besuchen ab und zu Comics mitgebracht. „Clever und Smart“, „Gespenster Geschichten“, Zack und Edelwestern. Vor allem die Edelwestern habe ich mehrmals verschlungen. Im Krankenhaus war es sehr langweilig, also fing ich an einzelne Figuren oder Panels aus den Comics abzuzeichnen. Vor allem Blueberry von Giraud und Red Dust aus „Comanche“. Ich versenkte mich in meine Zeichnungen und erfand eigene Geschichten. Das war in etwa die Zeit, als ich beschloss, Comiczeichner zu werden. Für mich gab es nicht die Möglichkeiten, Design oder Kunst zu studieren. Gezeichnet habe ich aber weiterhin. Mit Anfang zwanzig fing ich an, in einem selbst gegründeten Verlag namens Edition Spaceboy Comics zu produzieren. „Jim“ erschien als Piccolo-Heftchen in limitierter Auflage von 50 Stück mit Unikat-Cover. Die meisten Heftchen habe ich verschenkt. Es gab insgesamt sieben „Jim“-Piccolos. Und so ging es dann weiter, mit eher kleineren Storys für Anthologien und weiteren Heftchen im Spaceboy-Verlag. Irgendwann lernte ich andere Comiczeichner kennen, das war dann noch mal ein wichtiger Impuls für mich weiterzumachen.

Frank Schmolke (Autor und Zeichner): „Trabanten“.
Edition Moderne, Zürich 2013. 216 Seiten. 24 Euro

Bevor wir uns in dein neues Buch vertiefen, würde ich gerne noch über dein Debüt „Trabanten“ sprechen, auch weil du bereits in deinem Erstling einen ähnlichen Ansatz verfolgst wie in „Nachts im Paradies“: die Vermischung von autobiografischen Elementen und Thriller-Plot, mit dem „hässlichen“ München als Setting. Kannst du uns ein bisschen über die Entstehung von „Trabanten“ erzählen, vor allem welche Aspekte deiner eigenen Geschichte darin Einzug fanden?
Mit dreißig Jahren versuchte ich ein Storyboard für eine eher autobiografische Graphic Novel zu entwickeln. Das wurde aber alles nicht so, wie ich es mir vorstellte. Ich musste mich erst von meinen Comic-Vorbildern lösen und habe lange gebraucht, um einen Stil für eine längere Erzählung zu finden. 2006 habe ich dann begonnen, „Trabanten“ in ein Skizzenbuch zu scribblen. Innerhalb von zwei Tagen war die Story fertig, fast genauso, wie sie jetzt im Buch ist. Für die Reinzeichnungen brauchte es aber fast sieben Jahre. Das lag auch daran, dass ich circa 150 Seiten in die Tonne gekloppt habe, weil mein Zeichenstil sich während der Arbeit an dem Comic veränderte. Die ersten Seiten sahen anders aus als die letzten Seiten. Also wieder alles auf Anfang. Und ich zeichnete damals mit der Feder. Damit bin ich nicht sehr schnell.

Alles in allem war „Trabanten“ eine sehr langwierige Sache, das wollte ich mit meinem nächsten Comic anders machen. Meine Lieblingsseite in den „Trabanten“ ist die Szene, als Gina und Franz sich das erste Mal küssen. Das ist die einzige Seite im Buch, die mit dem Pinsel gezeichnet ist. Als ich dann anfing, das Storyboard zu „Nachts im Paradies“ zu zeichnen, versuchte ich es mit dem Pinsel. Das ging viel schneller und sah ganz okay aus. Die Reinzeichnungen habe ich dann auch mit dem Pinsel gemacht. In „Trabanten“ geht es größtenteils um die Gegend, in der ich aufgewachsen bin und die Menschen, die dort lebten. Ein Randgebiet von München, viele Hochhäuser, keine schöne Ecke. Für mich war das damals alles sehr trostlos, das wollte ich unbedingt mit dem Comic transportieren. Einige der Figuren gibt oder gab es wirklich. Mit der Story wollte ich mich ein Stück weit von meiner Vergangenheit befreien und aufzeichnen, wie das war für mich als Heranwachsender in einer Trabantenstadt.

Frank Schmolke (Autor und Zeichner): „Nachts im Paradies“.
Edition Moderne, Zürich 2019. 352 Seiten. 29,80 Euro

„Nachts im Paradies“ erzählt von dem Münchner Taxifahrer Vincent, der während des im Gewerbe gefürchteten und zugleich herbeigesehnten Oktoberfestes einige Tage und Nächte erlebt, die ihn an seine Grenzen bringen. Die Geschichte ist, wie bereits erwähnt, von deinen eigenen Erlebnissen durchdrungen. Du bist selbst über 20 Jahre in München Taxi gefahren. Viele der schrägen Begegnungen im Buch hast du selbst erlebt. Wie kam es zu dem Buch?
Beim Taxln hatte ich meistens ein Skizzenbuch bei mir. Über die Jahre haben sich da ein paar ganz interessante Figuren und Erlebnisse versammelt. Daraus wollte ich schon vor vielen Jahren mal einen längeren Comic machen. 2014 musste ich dann aus finanziellen Gründen fast das ganze Jahr Taxi fahren. Das Taxifahren fiel mir schwer, ich war fünf Jahre nicht mehr in einem Taxi gesessen. Zur Wiesn bin ich dann sehr intensiv gefahren und es gab ein paar wirklich bizarre Begegnungen mit Fahrgästen. Das war der Auslöser für „Nachts im Paradies“. Im Taxi habe ich dann angefangen, das Storyboard zu machen. Ohne wirklich darüber nachzudenken, was den Aufbau, den Plot und die Dramaturgie der Erzählung angeht. Einige Szenen im Buch sind mir so oder ähnlich passiert, ein paar sind ausgedacht. Die surreale Ebene kam hinzu, als ich beim Durchsehen meiner alten Skizzenbücher entdeckte, dass darin immer wieder Fahrgäste mit Tierköpfen auftauchen. Das war dann die Vorlage für die Unterwelt in „Nachts im Paradies“.

Was hat für dich den Job als Taxifahrer geprägt? Wie war das für dich, als du noch aktiv warst, und wie blickst du heute auf diese Zeit zurück?
Wenn du nachts Taxi fährst, weißt du eigentlich nicht wirklich, wie die Nacht endet. Hast du gut verdient? Waren die Menschen nett? Ist was passiert? Du bist alleine in deinem Taxi, auf engstem Raum mit wildfremden, oft alkoholisierten Menschen. Da kann alles passieren. Es ist aufregend. Das hast du in keinem anderen Beruf. Das hat mich in jungen Jahren angezogen. Es war ein Abenteuer. Anfangs war es eine coole Zeit. Heute verbringe ich meine Nächte allerdings viel lieber an meinem Zeichentisch.

Seite aus „Nachts im Paradies“ (Edition Moderne)

„Nachts im Paradies“ mit seiner Abwärtsspiralenstruktur kann man als Abgesang auf den Beruf des Taxifahrers lesen. Auf den letzten Seiten deiner Graphic Novel wirfst du einen düsteren Blick auf die Zukunft des Gewerbes: Uber, selbstfahrende Autos, „mehr Vergangenheit als Zukunft“, wie Vincent sagt. Mit dieser Negativprognose scheinst du genau richtig zu liegen: Seit Anfang des Jahres protestieren Taxifahrer bundesweit gegen die geplante Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes, die u. a. Mietwagen-Anbietern auf den Status von Taxiunternehmen anheben würde. Siehst du die Zukunft für das Fahrgastgewerbe wirklich so schwarz wie in deinem Buch?
Nicht nur Uber und andere Fahrdienstleister sägen am Taxigewerbe. Der bayrische Verkehrsminister hat da auch so seine Ideen. Ich kann seine Entscheidungen nicht nachvollziehen und ein Großteil der Münchner Taxler wahrscheinlich auch nicht. Alternative Fahrdienstleister bekommen den gleichen Status wie Taxiunternehmen, die sehr hohe Standards und Auflagen erfüllen müssen, um Personen in ihren Taxis überhaupt befördern zu dürfen. Wenn Du einen Taxischein willst, musst du eine Ortskundeprüfung machen. Du brauchst ein polizeiliches Führungszeugnis und ein ärtztliches Gutachten, das du alle fünf Jahre erneuern musst. Das kostet ca. 400 Euro insgesamt. Das gewährleistet, dass du dich zumindest theoretisch in deiner Stadt auskennst und geistig und körperlich einigermaßen gesund bist. In einem Taxi bist du als Fahrgast bei einem Unfall versichert, Taxis haben Beförderungspflicht, das heißt, ich muss theoretisch jeden mitnehmen. Uber muss das nicht. Die picken sich die Rosinen raus. Das ist alles sehr ungerecht. Durch die politischen Entscheidungen wird es für reguläre Taxifahrer immer schwieriger, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ich kenne Taxifahrer, die fahren für mehrere Zentralen, um auf ihren Umsatz zu kommen. Mittlerweile verlangen die Taxiunternehmer 55-60 Prozent vom Umsatz eines Fahrers, um ihr Gewerbe zu halten. Als ich Ende der 80er anfing, waren es 45 Prozent. Heute habe ich gelesen, dass ein bayerisches Start-Up den Jungfernflug seines Flugtaxis mit Erfolg absolviert hat. Ich musste lachen, da ploppen in meinem Kopf sofort ein paar Geschichten auf.
Also ja, wenn man das mal objektiv betrachtet, sieht es eher düster aus für das Taxigewerbe.

In einem kleinen Subplot geht es um die Organisation „Free Munich“, ein Netzwerk von Menschen aus dem Gastgewerbe. In einer Szene gegen Ende machst du die politische Gesinnung des Verbands recht deutlich, nicht zuletzt durch die grafische Inszenierung, die an die Hofbräukeller-Auftritte von Hitler erinnert…
Die Szene im Keller ist etwas überzogen, aber das wollte ich so. Weltweit gibt es nationale Strömungen, die Menschen kommen mit der Globalisierung nicht zurecht und wünschen sich einen übersichtlichen Lebensraum. „Free Munich“ steht für den Zusammenschluss der Ewiggestrigen. Die Veranstaltung hat ja eher etwas Hilfloses und ist keine Gewinnerparty. Aber das ist auch die Realität weltweit und die ist hochexplosiv. Gerade als Münchner sollte man das wissen.

Seite aus „Nachts im Paradies“ (Edition Moderne)

München ist ja eher bekannt für seine Schickeria, das Oktoberfest wird als Aushängeschild für Tourismus und eine kosmopolitische Ausrichtung genutzt. Du dagegen zeichnest in „Trabanten“ und jetzt noch viel extremer in „Nachts im Paradies“ die dunklen, hässlichen Seiten der Stadt. Vor allem die „Wiesn“ ist eine albtraumhafte Zeit und ein albtraumhafter Ort. Was interessiert dich als Erzähler an den Kehr- und Nachtseiten deiner Heimatstadt? Und wie passt das Oktoberfest in diese Licht/Schatten-Dynamik?
Es gab in den 1970er Jahren einen Sticker, der überall klebte, „München – Weltstadt mit Herz“. München versuchte damals sein Weltstadt-Image zu etablieren, nur war München damals keine Weltstadt, sondern eher ein großes Dorf. Das war auch immer das Charmante am alten München. Heute platzt die Stadt aus allen Nähten. Es gibt die Innenraum-Verdichtung, das heißt, es werden in Innenhöfen neue Häuser hochgezogen, um den gewünschten Wohnraum zu liefern. Um dir eine Wohnung in der Stadt leisten zu können, reicht ein mittleres Einkommen nicht mehr aus. Dieses schöne, strahlende München, das so viele Menschen anzieht, gilt ja nur für die, die sich die Stadt leisten können. Der Normalverdiener kann schon einen Spaziergang durch die Innenstadt machen, die teilweise wirklich schön ist, wohnt aber dann wahrscheinlich eher am Rand von München. Die sogenannte Schickeria Münchens sind eigentlich nur ein paar begüterte Leute. Auf der Wiesn sieht man jedes Jahr das Schaulaufen der Fußballstars und Möchtegern-Prominenz. Die bestimmen dann leider auch zum Großteil das Image von München. Das ganze Bussi-Bussi-Getue fand ich immer lächerlich. Das Oktoberfest allerdings ist für das Gastgewerbe und die Stadt ein Segen. DAS Volksfest weltweit. Als Taxifahrer bist du der gefragteste Dienstleister in dieser Zeit. Das ist natürlich super, weil man in zwei Wochen mal anständig Umsatz machen kann. Andererseits ist es auch extrem. Der Alkohol spielt da eine große Rolle und die Fahrgäste sind teilweise auch anders drauf. Als Nachtfahrer bekommst du schon ab 22 Uhr den Schluss des Abends mit. Wenn die Festzelte schließen, sitzen die Wiesngäste in deinem Taxi, oft betrunken. Manche, die vorher so auf ihr Aussehen und ihren Status bedacht waren, lassen dann die Masken fallen. Das ist das München, das ich dann sehe. Da ist kein Glamour mehr, sondern nur der Geruch von Schweiß und Alkohol. Das wollte ich mit „Nachts im Paradies“ einfangen. Ich habe es natürlich komprimiert. Es gibt auch ganz normale, nette Wiesnbesucher. Für Vincent in seinen letzten drei Nächten allerdings nicht.

Vom 20. bis 30. Juni wirst du eine Ausstellung in der Münchner Galerie Kösk haben. Kannst du uns schon ein bisschen über die Schau verraten?
Es werden die Originalseiten aus „Nachts im Paradies“ gezeigt und auch die Taxi-Skizzenbücher. Die Storyboardseiten werden ebenfalls zu sehen sein. Ich werde signieren und mit meinen Gästen plaudern.