Kleinstadt-Horror und Beton-Kälte – „Gideon Falls“

Pater Wilfred, ein Geistlicher mit Vergangenheit, wird vom Bischof in das Städtchen Gideon Falls versetzt. Dort auf dem Land, mitten im Nirgendwo, soll er die Nachfolge von Pater Tom Chasely antreten, der kürzlich verstorben ist. Gleich in der ersten Nacht wird er unvermittelt geweckt – von Pater Tom! Als Wilfred ihm nach draußen folgt, entdeckt er auf den Feldern vor seiner Kirche die Leiche einer alten Dame, die grausam ermordet wurde. Und erblickt kurz eine bedrohlich wirkende schwarze Scheune. Als die Polizei eintrifft, glaubt ihm die Geschichte von Pater Tom und der wieder verschwundenen Scheune niemand. Noch schlimmer: Er wird zum Mordverdächtigen. Szenenwechsel: Norton ist ein Einzelgänger. Er war ein Waisenkind, weiß nichts von seiner Herkunft und lebt in der Großstadt. Er trägt ständig Mundschutz und ist psychisch krank. Zumindest meint das seine Therapeutin Dr. Xu. Denn wie unter Zwang muss Norton ständig den Abfall der Stadt durchwühlen, auf der Suche nach alten Nägeln und kleinen Holzteilen, die er hin und wieder findet. Darin sieht er ein System, er glaubt dahinter verbirgt sich etwas Böses. Er glaubt, dass dies die Teile einer unheilvollen schwarzen Scheune sind…

Jeff Lemire (Autor), Andrea Sorrentino (Zeichner): „Gideon Falls Band 1“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Bernd Kronsbein. Splitter Verlag, Bielefeld 2019. 160 Seiten. 24 Euro

Jeff Lemire Vielseitigkeit zu attestieren, ist in der Tat noch untertrieben. In einem hohen, nicht nachlassenden Tempo stößt er am laufenden Band Serien aus, die verschiedenste Genres abdecken und dazu allesamt von hoher erzählerischer Qualität sind. Sei es Science Fiction mit „Descender“, das jüngst beendet wurde und aktuell mit „Ascender“, einer Fantasy-Serie, fortgeführt wird, oder „Black Hammer“, worin er gleich ein ganzes Helden-Universum schuf, auch als Hommage an die klassischen Recken aus dem Golden und dem Silver Age. Dazwischen findet er noch Zeit und Muße für Superhelden-Storys wie „Old Man Logan“, „Moon Knight“ oder jüngst „Hit-Girl in Kanada“. Nun also auch Horror. „Gideon Falls“ besteht aus zwei Handlungslinien, die sich bisher nur optisch berühren (was raffiniert visualisiert ist, dazu unten mehr). Mit Pater Fred (die Anrede ist ihm lieber) kommt ein gefallener Priester mit Alkoholproblem in den ländlichen Ort und handelt sich prompt wieder Ärger ein, er erweist sich dann aber doch als tapferer Mitstreiter von Sheriff Clara Miller. Nach und nach ergründet Pater Fred die alte Legende um die schwarze Scheune, was immer gefährlicher wird.

Dem Kleinstadt Horror mit seinen alten Mythen, an die nur wenige Verschrobene glauben und die sich natürlich als wahr erweisen, was erst durch den außenstehenden Pater Fred klar wird, stellt Jeff Lemire die Beton-Kälte und die Anonymität der Großstadt gegenüber – nicht minder gruselig –, in der Norton seinen vermeintlichen Zwangsneurosen nachgeht. Ein schmaler Grat für Norton, droht doch ständig eine erneute Einweisung in die Psychiatrie. Und ausgerechnet seine Ärztin Dr. Xu, von Berufs wegen schon rational geeicht, wird seine einzige Verbündete auf seinem verrückten Weg. Natürlich ahnen beide Protagonisten – Pater Wilfred und Norton – nichts voneinander. Beide verfolgen zwar dasselbe Ziel – die schwarze Scheune zu finden und ihr offenbar fürchterliches Geheimnis zu entschlüsseln –, aber nur dem Leser wird durch die raffinierte Panelstruktur optisch gewahr, dass es zwischen den beiden Erzählsträngen noch eine Verbindung gibt. Und ausgerechnet diese eine, wenngleich brüchige Gewissheit, die sich der Leser aufbaut, wird ganz am Ende von Lemire wieder erfolgreich torpediert. Was für ein raffinierter Gauner.

Überhaupt, die Zeichnungen und das Design: Der Italiener Andrea Sorrentino, der bereits bei „Old Man Logan“ mit Lemire zusammenarbeitete, glänzt hier erneut mit seinem scharfen, feinen Strich und ungewöhnlichen Seiten- und Panelaufteilungen, die vor allem in den surrealen, apokalyptischen „Scheunen-Szenen“ (nein, wir verraten nicht zu viel) für Erstaunen sorgen und dort bisweilen an verstörende Tableaus aus der letzten „Twin Peaks“-Staffel erinnern. Auch dank der einmal mehr stimmigen Farbgebung von Dave Stewart. Am Ende kennt der Leser die Charaktere zwar, weiß aber, dass er eigentlich nichts weiß. Und diese gruselige, nagende Ungewissheit sollte man bis zum Erscheinen von Band 2 (erscheint im September) wohlig genießen. Neben der Standard-Edition, die an sich schon mit Variant-Covern bestückt ist, bietet der Verlag auch eine auf nur 300 Exemplare limitierte Vorzugsausgabe an, die weiteres Bonusmaterial enthält und mit einem von Jeff Lemire signierten Druck daherkommt.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.

Seite aus „Gideon Falls“ Band 1 (Splitter Verlag)