Nur wenige können das Meer so atemberaubend zeichnen wie Emmanuel Lepage: Da spritzt die Gischt weiß über den schwarzen Wogen, die sich so hoch auftürmen, dass sie über dem Schiff zusammenzubrechen drohen. Dann wieder tänzeln einzelne Schaumkronen über dem strahlend blauen Meer, das sich gemächlich im Sonnenlicht bewegt. Ein friedlicher Anblick – wenn da nicht Odysseus im Wasser treiben würde. Angestrengt klammert sich der Held um einen Mast.
Wie ein Kostümfilm
„Die Fahrten des Odysseus“ beginnt allerdings wie ein Kostümfilm. Da schiebt sich ein antiker Soldat mit Schild, Speer und Rüstung ins dunkle Blau der Nacht. Auf einem anderen Bild treiben mehrere Männer einen riesigen Speer in das Auge eines Zyklopen.
„Poseidon verfolgt ihn, der Erdumgürter, mit heißer, unaufhörlicher Rache; weil er den Kyklopen geblendet, Polyphemos, den Riesen, der unter all den Kylopen, stark wie ein Gott sich erhebt. Darum trachtet den Helden der Erderschütterer Poseidon. Nicht zu töten – allein von der Heimat irre zu treiben.“
Emmanuel Lepage setzt den Text von Homers Odyssee unter seine wuchtigen Bilder. Ein unglücklicher Anfang, weil es wirkt, als würde er den antiken Text illustrieren. Doch schon ein paar Seiten später wird klar, dass diese Bilder von einem mittellosen Kunstmaler stammen, der aus lauter Abenteuerlust übers Meer segeln will. Seine Zeichnungen sind die Eintrittskarte dafür.„Ich habe nicht vor, Dir eine Kreuzfahrt zu schenken. Ein Bild pro Woche, solange Du an Bord meines Schiffes bist, einverstanden?“
Der Zorn der Götter
Salome Ziegler ist die Kapitänin des Schiffs. Sie denkt und handelt eigenständig und fällt damit aus den Gender-Konventionen ihrer Zeit. Und so wie Odysseus immer wieder mit dem Zorn der Götter konfrontiert war, so trifft Salome der Zorn ihrer Zeitgenossen.
Für „Die Fahrten des Odysseus“ hat Lepage den antiken Mythos dekonstruiert und baut dessen Versatzstücke zu einer Abenteuergeschichte im ausgehenden 19. Jahrhundert zusammen. Salome Ziegler wird zum Freiwild und landet in einem Bordell, als sie als junges Mädchen von zu Hause ausreißt und damit den Schutz des Vaters aufgibt. Und ähnlich wie Odysseus manövriert sie sich selbst immer wieder durch ihre Wut und Neugier in gefährliche Situationen und wächst daran.
„Wer die Hölle gesehen hat, ist älter, als er zu sein scheint.“
Eine kühle und nachdenkliche Emanzipationserzählung
Die Kapitänin ist fasziniert von Homers Odyssee und liest daraus immer wieder ihren Matrosen vor. So verwebt Emmanuel Lepage die sperrige Sprache des Originals mit seinen beeindruckenden Bildern. Der Comickünstler zeigt, wie in der Auseinandersetzung mit dem antiken Stoff immer neue Interpretationen entstehen: auf der erzählerischen Ebene, indem er Salome Ziegler auf eine Odyssee schickt, auf der sie mit ähnlichen Erfahrungen konfrontiert wird wie der antike Odysseus.
Und auf der Bildebene. Denn Salome ist auf der Suche nach Gemälden eines Historienmalers des 19. Jahrhunderts, der sich mit der Odyssee beschäftigt hat. So verwebt Emmanuel Lepage die kraftstrotzenden Ölkreidezeichnungen des Historienmalers, das bombastische Spektakel vom Beginn des Comics – und seine eher kühle und nachdenkliche Emanzipationserzählung um Salome Ziegler. Emmanuel Lepage liefert damit eine sehr eigenwillige und dichte Interpretation – und zugleich eine Liebeserklärung an das Meer.
Dieser Text erschien zuerst am 24.06.2019 in: Deutschlandfunk
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.