Man sieht einen Mann, der nackt und mit einem Knüppel bewaffnet auf der verbrannten Erde herumstampft. Er ruft: „Zum Angriff! Ich bin General der Kaiserlichen Armee! Schnappt sie euch!“ Aber er kann sein Wasser nicht halten, und während er schnaubend dahinläuft, sieht man einen Urinstrahl, der auf den Boden spritzt. Ein paar Panels darüber betrachtet man die, von denen es damals Unzählige gegeben haben muss: menschliche Zombies, unidentifizierbare Wesen. Sie stöhnen unter Qualen und schreien: „Wasser!“ Der Zeichner und Autor Keiji Nakazawa lässt sie am Ende des ersten Comic-Bandes von „Barfuß durch Hiroshima“ und im Verlauf des zweiten wieder und wieder auftauchen, meistens in kleinen Gruppen. Mit schwarzen Augenhöhlen und einer Haut, die wie geschmolzenes Plastik aussieht, sind diese schwerfällig paradierenden Beinahe-Toten vermutlich das zeichnerisch stärkste und am längsten nachwirkende Symbol des Comics für das unfassbare Grauen in der Stadt Hiroshima nach dem Abwurf der Atombombe.
Nakazawa ist selbst ein Überlebender des Infernos. Insbesondere die Bilder, die er in der atomaren Hölle kurz nach dem Abwurf der Bombe zu Gesicht bekam, wurden ihm zu unauslöschbaren Erinnerungen. Um den Tod seiner Mutter aufzuarbeiten, die an den Folgen der atomaren Verseuchung starb, schrieb und zeichnete er zuerst eine autobiografische Erzählung mit dem Titel „Ore ha mita“ (Ich habe es gesehen) und veröffentlichte kurz darauf, im Jahr 1972, „Barfuß durch Hiroshima“ als Fortsetzungscomic im renommierten japanischen Mangamagazin „Shukan Shonen Jump“. „Hadashi no Gen“ (Der barfüßige Gen) ist eines der wenigen gezeichneten Werke, in denen autobiografische Erinnerungen an die Schrecken des Krieges das eigentliche Thema sind. Art Spiegelmans legendärer Comic „Maus“ über den deutschen Überfall auf Polen und den Holocaust ist insofern mit „Barfuß durch Hiroshima“ vergleichbar – obgleich „Maus“ nicht die Erfahrungen des Zeichners widergibt– – Spiegelman ist Jahrgang 1948 –, sondern auf der Erzählung der traumatischen Erfahrungen seines Vaters, Vladek Spiegelman, beruht.Spiegelman hat auch das Vorwort zum ersten Band des Comics „Barfuß durch Hiroshima“ geschrieben, der in Japan schon populär war, als der Zeichner mit den Arbeiten für „Maus“ gerade begonnen hatte. Kritik an der Reihe, die in einem Vorwort doch immerhin denkbar wäre, äußert Spiegelman nicht; er ist viel zu beeindruckt. Er hält Nakazawa für „einen begnadeten Erzähler“, meint, dass die „ungekünstelte Schlichtheit“ und „Ehrlichkeit“ der Figuren der allergrößte Vorzug der Zeichnungen sind. Schließlich schreibt er der Geschichte und den Zeichnungen wegen ihrer durch Nakazawa verbürgten „Authentizität“ eine absolute Unangreifbarkeit zu. Was soll man davon halten? Tatsächlich gibt es an „Barfuß durch Hiroshima“ einiges zu kritisieren.
Die Handlung der ersten drei dieser auf vier Bände angelegten Reihe ist rasch erzählt. Es ist die Geschichte des kleinen Gen, Nakazawas Alter Ego, sowie die seiner Familie. Und es ist die Geschichte eines Krieges, seiner sozialen Realität und seiner katastrophalen Folgen. Nakazawa erzählt sie uns aus der Perspektive Gens und mit dem „gerechten“ Zorn eines Betroffenen über den Wahnsinn, den der Krieg bedeutet. Völlig normal erscheinen Gen die Prügel, die er und seine Brüder regelmäßig vom Vater bekommen. Sie wirken wie ein hilfloser Akt verzweifelter Vaterliebe vor dem Hintergrund verrohter Sitten. Gens Familie hat es besonders schwer: Sie leidet nicht nur unter den Bombenangriffen der Alliierten, sondern genauso unter den dauernden Übergriffen des sozialen Umfeldes. Was mit dem pazifistischen Engagement des Vaters zu tun hat: Er ist leidenschaftlicher Kriegsgegner, setzt seine Meinung zur Not auch mit Fäusten durch. Bald sind die Familienmitglieder verhöhnte und geprügelte Parias des Viertels – Verräter des Vaterlandes. Der japanisch-amerikanische Krieg ist fast verloren. Entsprechend empfindlich reagiert die kaiserliche Kriegsmaschinerie auf Kritik.
Es ist vor allem diese Familiengeschichte, die Nakazawa auf den ersten 300 Seiten erzählt. Und weil sie nicht sonderlich komplex ist, wiederholen sich immerfort die Sequenzen, die von Hunger, Prügeleien, sozialer Ächtung, familiären Litaneien über die enormen Ungerechtigkeiten handeln – und dies in nahezu identischen Bildfolgen und Bildern.Zur Eindimensionalität des hölzernen Zeichenstils, der gewiss nicht nur einer betont naiven Mangazeichentradition zuzuschreiben ist, passt wiederum die Eindeutigkeit, mit der Nakazawa für den Leser die Welt in Gut und Böse teilt. Es ist ganz einfach: Gen und seine Familie sind das Grundgute, der Rest das Böse, mit ein paar vernachlässigenswerten Ausnahmen. Ist es vielleicht so einfach, weil Kinderwelten generell einfach sind?
Nein, denn erstens sind sie es nicht, und zweitens ist Gen zwar erst sechs, dennoch versteht er einfach alles, was mit ihm und seiner Familie geschieht. Allerdings ist er auch kein normaler kleiner Junge, das verrät schon sein Name, der Hoffnung versprechen soll: Er steht für „Ursprung“ oder „Wurzel“. „Mir schwebte ein Held vor, der mit nackten Füßen fest auf den verbrannten Überresten Hiroshimas steht und seine Stimme gegen den Krieg und nukleare Waffen erhebt“, sagt Nakazawa im Vorwort zu Band II. Und man muss feststellen: Für sein pazifistisches Epos hat er eine Menge Plausibilität geopfert.
Der zweite und dritte Band erzählen von der Zeit in und um Hiroshima kurz nach dem Bombenabwurf. Gens barfüßige Reisen über das verbrannte Land führen ihn immer wieder zurück zur Mutter, die mit einem Baby, das unmittelbar nach der Explosion geboren wurde, auf ihren Sohn, den Ernährer wartet. Sie ist hilflos und sehr schwach, doch der Sechsjährige ist stark wie ein Löwe. Schließlich hat er seinem Vater, als der im Sterben lag, das Versprechen gegeben, gut auf die Mutter Acht zu geben. Obwohl Kinder im Krieg bekanntlich schneller erwachsen werden, ist das alles etwas viel der guten Mär vom heldenhaften Kinder. In Wirklichkeit war es freilich so, dass sich die Mutter die meiste Zeit um ihren kleinen Sohn Keiji und dessen Wunden und Bedürfnisse gekümmert hat. Das sagt Nakazawa selbst im Interview im Anhang des zweiten Bandes. Freilich nur, um ein paar Sätze später das Gegenteil zu behaupten. Alles sei haargenau so gewesen, wie er es in seinem Comic erzählt hat – höchst authentisch eben. Verwirrung stiftet dieser Widerspruch allerdings nicht. Es ist kinderleicht, sich für eine der beiden Versionen zu entscheiden.
Diese Kritik erschien zuerst in: Jungle World 27/2005
Michael Saager ist Publizist und Redakteur. Zahlreiche kulturjournalistische Texte u. a. in KONKRET, Jungle World, Taz, ND, Fluter, WOZ und Intro.