Naoki Urasawa gehört zu den erfolgreichsten Mangakünstlern in Japan, der nicht nur mit den wichtigsten Preisen in Japan ausgezeichnet wurde, sondern auch in Deutschland. Seinen internationalen Durchbruch feierte er mit der Thriller-Serie „Monster“, die er in den 90er-Jahren gezeichnet hat. Es geht um einen japanischen Neurochirurgen in Düsseldorf, der das Leben eines Jungen rettet und dafür seine Karriere aufgibt – eigentlich hätte er statt des Jungen den Bürgermeister operieren sollen – und danach so richtig in Schwierigkeiten gerät, weil er in eine Reihe von Serienmorden und eine Verschwörung gerät.
Andrea Heinze: Wie sind Sie auf die Idee zu der Serie gekommen?
Naoki Urasawa: Das Drama „Monster“ ist entstanden, weil ich sehr gern den Roman „Frankenstein“ mochte. Das hat mich sehr interessiert, und da habe ich mir überlegt, ob ich die Geschichte nicht in die heutige Zeit bringen kann. Der zweite Aspekt war, dass es damals in den USA diesen Film mit Harrison Ford gab, „Auf der Flucht“. Es ging um einen Arzt, dessen Frau getötet wurde, und ich mochte den sehr gerne. Und dann dachte ich, ich muss etwas machen, wo ein Arzt mitspielt, der verfolgt wird und ein Rätsel lösen muss. Und dann hat mich eben „Frankenstein“ interessiert, diese alte gotische Landschaft, und das beides wollte ich irgendwie zusammenbringen. Und dann kamen wir irgendwie auf Deutschland.
Und was hat Deutschland damit zu tun?Ich wollte etwas Düsteres machen. Und ich will nicht sagen, dass Deutschland die Wurzel allen Übels ist. Aber wenn Sie auf den Zweiten Weltkrieg schauen – und das ist in Japan präsent, auch weil Japan damals ein Verbündeter von Deutschland war –, da gab es schon sehr viele dunkle Geschichten in Deutschland und auch in Japan. Vieles ist aufgeklärt worden. Aber einiges eben nicht. Außerdem habe ich mir als Figur diesen schönen, blonden, blauäugigen Jungen ausgedacht. Ich finde, das ist ein guter Kontrast, dem dieses Dunkle, Schlechte gegenüberzustellen. Und je mehr man in die Geschichte einsteigt, desto deutlicher wird, dass die Wurzeln der Konflikte im Zweiten Weltkrieg liegen. Wenn man das alles zusammenzählt, dann konnte der Manga nur in Deutschland spielen.
Wie haben Sie die Geschichte zu „Monster“ recherchiert?
Ich habe viele Dokumentationen gesehen. In den 90er Jahren gab es auch Berichte von Neonazi-Angriffen auf Häuser, in denen Türken wohnen. Solche Sachen habe ich gesehen, die sind auch in meine Geschichte eingeflossen. Den Rest habe ich mir ausgedacht. Zum Beispiel auch den Jungen, den Johann. Der wird in einem Kinderheim aufgezogen, in dem viele Menschenversuche stattfinden. Und kurz bevor ich mit meinem Werk „Monster“ fertig war, kam im japanischen Fernsehen eine Dokumentation über das Ende der Nazizeit, und da hat man auch über ein Lager berichtet, in dem blonde, blauäugige Jugendliche zusammengepfercht wurden und praktisch so eine Elitenausbildung absolvieren mussten. Und dieser Junge, der da dargestellt wurde, der hieß auch noch Johannes. Ich wurde dann gefragt, ob ich das alles vorher gekannt habe – aber das stimmt gar nicht, das war alles aus meiner Vorstellung heraus.
Wie kommt es, dass auch Prag zum Schauplatz für die Geschichte wurde?
Weil alles, was östlich von Deutschland war, die ganzen osteuropäischen Länder, in den 90er Jahren in Japan gar nicht bekannt waren. Heute ist das ganz anders, aber damals kannte man alles, was östlich von Deutschland lag, kaum. Während auf der anderen Seite Deutschland und alles, was weiter westlich liegt, touristisch schon erschlossen war. Und auch im Manga war Osteuropa bis dahin noch nie aufgegriffen worden. Es hat mich auch als Zeichner fasziniert und sehr angezogen. Wenn man nach Deutschland oder Frankreich geht, da ist es abends viel heller. Wenn sie dann aber weiter nach Osten gehen, in meinem Fall war das Prag, da war es Mitte der 90er Jahre abends auf den Straßen viel dunkler. Und dieses Dunkle, diese Nacht, wollte ich für mich erschließen.
Was hat der Manga „Monster“ mit Mary Shelleys Roman „Frankenstein“ zu tun?Bei „Frankenstein“ geht es um einen Wissenschaftler, der ein Monster geschaffen hat, und da geht es auch um die Verantwortung des Menschen. Es gibt sicher Dinge, die der Mensch schaffen darf und die er vielleicht nicht schaffen sollte. Diese Gedanken kann man sicherlich weiterführen, und das habe ich in der Serie „Monster“ gemacht. Es geht um den japanischen Arzt, der einen Jungen gerettet hat, und später wird der Junge zu einem Monster, zum Mörder. Und da stellt sich der Arzt die Frage, ob er dafür nicht die Verantwortung trägt, dass dieser Junge zu einem Mörder geworden ist. Das ist zwar ein anderer Konflikt als bei „Frankenstein“, aber die Frage nach der Verantwortung für die eigenen Taten wird eben auch in „Monster“ zum Thema.
Für mich steht dieser Arzt aber geradezu idealtypisch für das Gute im Menschen. Der rettet diesen Jungen sogar gegen den Willen der Klinikleitung, die ihren besten Chirurgen viel lieber für eine OP des Bürgermeisters einsetzen will.
Jeder gute Mensch hat irgendwo hinten im Herzen Stellen, die vielleicht nicht so gut sind, und bei Doktor Hämmer war es ja auch so – im Krankenhaus gab es mit der Leitung einige Unstimmigkeiten, wo er dann gedacht hat: „Am liebsten wäre mir es, wenn alle tot wären.“ Und später sagt ihm Johann: „Ich hab dir das erfüllt, was du dir gewünscht hast.“ Da kam ihm die Idee, dass er das alles auch mitverursacht hat und die Schuld daran trägt. Und ich wollte in meinem Werk zeigen, dass es in jedem Menschen etwas Gutes und etwas Böses gibt, und das ist eben das Wesen des Menschen.
Außerdem, was ich nicht angesprochen habe: Es gibt in Japan den Manga-Klassiker „Astroboy“ von Osamu Tezuka. Da gibt es einen Wissenschaftler, dessen Sohn gestorben war, und der schafft sich dann einen Roboter, der aussieht wie sein Sohn und der auch Gefühle hat. Aber irgendwie sagt er: „Du bist nicht mein Sohn.“ Irgendwann vernachlässigt er diesen Roboter. Dieser Wissenschaftler ist im Prinzip Doktor Tenma. Also „Frankenstein“ und „Astro Boy“ sind die zwei Seiten, die eng zusammengehören. Vor allem den Zeichner Tezuka mit seinem Klassiker „Astro Boy“ empfinde ich als meine Wurzeln.
Osamu Tezuka gilt als der Begründer des modernen Manga, was schätzen Sie an ihm?
Das ist schwer in einem Wort zu sagen. Vielleicht kann man es so beschreiben: Die Manga waren zunächst Comics für Kinder. Aber Tezuka hat das anders gemacht, er hat praktisch so etwas wie einen Roman von Dostojewski geschrieben, aber mit den Mitteln des Manga. Etwas sehr viel Tiefgehenderes, und es geht letztlich nicht darum, dass die Gerechtigkeit siegt, sondern er geht noch tiefer und vermittelt praktisch das Gefühl, dass selbst das Siegen etwas Trauriges und Leeres mit sich bringen kann. Das ist etwas Tiefergehendes. Und das hat er bereits in den Anfängen des Manga vermitteln können.
Dieses Interview erschien zuerst am 26.11.2019 in: Deutschlandfunk
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.