Räuberpistole mit realem Hintergrund – „Atom Agency“

August 1949, in der Nähe von Cannes. Aga Khan, damals der reichste Mann der Welt, und seine Frau werden beim Verlassen ihrer Villa überfallen. Dabei erbeuten die Gangster wertvollen Schmuck in Millionenhöhe. Der junge Atom, Sohn des umtriebigen Kommissars Tigran Vercorian, von armenischer Abstammung und bisher eher ein Möchtegern-Detektiv, sieht in dem Fall seine große Chance sich zu etablieren. Gemeinsam mit Mimi, einer feschen Freundin, ruft er die Agentur Atom ins Leben, versucht über seinen störrischen Vater an Informationen zu gelangen und nimmt mehr unbeholfen als professionell eigenständig Ermittlungen auf. Über (ebenfalls armenische) Polizei-Kollegen seines Vaters stößt er in Marseille auf eine erste Spur, die sich jedoch als Sackgasse erweist. Dann kommen ihm gleich mehrere glückliche Fügungen zu Hilfe: Zuerst engagiert das Duo den ehemaligen Catcher Joseph Villain, alias „Jojo der Kreisel“, dann stellt sich auch noch heraus, dass Jojo die Frau Aga Khans, eine ehemalige französische Schönheitskönigin, persönlich aus früheren Zeiten kennt. So führen die Ermittlungen, gepaart mit der Kombinationsgabe von Mimi und Atom, zu ersten Erfolgen. Und direkt in gefährliches Fahrwasser…

Yann (Autor), Olivier Schwartz (Zeichner): „Atom Agency Band 1“.
Carlsen, Hamburg 2019. 48 Seiten. 12 Euro

Was wie eine wilde Räuberpistole mit Lino Ventura (er war vor seine Filmkarriere tatsächlich Catcher) und Jean Gabin aus den Fünfzigern klingt, ist tatsächlich so passiert. Minus der Agentur Atom und Kommissar Vercorian. Am 3. August 1949 raubten Unbekannte in einer spektakulären Aktion die Juwelen der Begum, der Frau des indischen Aga Khan III., des geistlichen Oberhauptes der Ismailiten. Obwohl die Tat schon bald aufgeklärt wurde, die Täter dingfest gemacht werden konnten und auch die Juwelen wieder auftauchten, blieben die vermeintlichen Drahtzieher unbehelligt: George Watson, britischer Ex-Offizier, der mit Aga Khan bekannt war und der in dessen Villa eine Hausangestellte platzierte. Und Paul Leca, genannt Paolo der Korse, eine feste Unterweltgröße, der sich rechtzeitig in die USA absetzte (und Jahre später bei seiner Rückkehr eine vergleichsweise milde Strafe absaß). Die Begum hieß vor ihrer Heirat Yvette Labrousse und war 1930 Miss France, ehe sie 1944 den wesentlich älteren (und natürlich reicheren) Aga Khan ehelichte.

Das bekannte Autorengespann Yann (u. a. „Helden ohne Skrupel“, „Pin-Up“, „Marsupilami“ und jüngst „Doppel 7“ mit André Juillard) und Olivier Schwartz („Inspektor Bayard“), das bei „Spirou Spezial“ und „Gringos Locos“ bereits zusammengearbeitet hat, legt mit „Atom Agency“ seine neue Serie vor. Titelgebender Held ist Atom Vercorian, ein junger, unbedarfter aber mutiger Detektiv mit überdimensionalen Augenbrauen. Die Story spielt in der Nachkriegszeit und vermittelt durch die wahren Begebenheiten eine Menge an Authentizität und Tiefe. Außer den fiktiven Vercorians lassen Yann und Schwartz auf der Schurkenseite mit Erika, der „roten Pantherin“, eine wahrhaft tödliche Femme Fatale auftreten, die neben Watson und Leca agiert und für furiose Szenen und Action sorgt (siehe Cover). Dabei bleibt die Story stets vielschichtig. Die zum Teil gemeinsame Vergangenheit der Protagonisten reicht zurück bis in die Résistance, worauf der bei seinem Vorgesetzten nicht unumstrittene Kommissar sein geheimes und geheimnisvolles V-Netz aufgebaut hat: Kleinganoven, die ihn mit wertvollen Informationen versorgen und dafür immer wieder straffrei davonkommen.

So entsteht eine gewisse ausgewogene Harmonie auf beiden Seiten des Rechts, die durch die dreiste Tat empfindlich gestört wird. Und auf gewisse Weise torpediert der ungestüme und forsche Atom die geduldige Vorgehensweise seines Vaters – ihm gegenüber will sich Atom letztendlich auch profilieren, wobei die alten Seilschaften von Jojo dem Kreisel eine wichtige und glückliche Rollen spielen. Wie auch bei seinen letzten Werken passt der moderne, kantige Ligne-Claire-Stil mit einer Prise Dupuis-Tradition bestens in die Zeit, in der die Geschichte spielt. Viele Details, wie zeitgenössische Plakate, der Blick auf die Catcher-Szene, die findigen Spitznamen der markanten Personen und eine fesselnde, zu weiten Teilen tatsächlich so geschehene Handlung lassen den ersten Fall von Atom Vercorian zu einem gelungenen Ganzen werden. So etwa könnte man sich ein modernes „Jeff Jordan“-Abenteuer vorstellen. Und wie aus der Agentur Atom die Atom Agency wird, ist am Ende das berühmte Tüpfelchen auf dem i. Übrigens: Angeblich ließ sich der große Hergé von der Tat zu seinem Tim-und-Struppi-Album „Die Juwelen der Sängerin“ inspirieren.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.

Sequenz aus „Atom Agency Band 1“ (Carlsen)