Linien aus der Vergangenheit

Dieser Beitrag erschien zuerst in: Freitag 38/2013

„Warschau interessiert mich nicht! Wir wollen nur unser Erbe zurück“, erklärt Regina Segal ihrem Sitznachbarn während des Fluges von Tel Aviv Richtung Polen. Segals Familie gehörte vor der nationalsozialistischen Besatzung eine Immobilie, die sie mithilfe ihrer Enkelin Mika – ihre Begleitung auf der Reise in die Familiengeschichte – und eines Warschauer Anwalts zurückerstattet zu bekommen hofft. Bereits während des Fluges stellt sich jedoch heraus, dass das titelgebende Erbe in Rutu Modans zweiter Graphic Novel mehr umfasst als lediglich die Restitution früheren Familienbesitzes. Die israelischen Flugpassagiere sind auf der Suche nach den unterschiedlichsten Formen solcher „Erbschaften“, seien es mit Polen verknüpfte Familiengeschichten – „Die Hälfte aller Fabriken in Posen gehörte der Familie meiner Mutter“ – oder für jugendliche Israelis organisierte Reisen auf den Spuren jüdischen Lebens und dessen Auslöschung in Osteuropa. „Okay, Montag Treblinka, Dienstag Majdanek, inklusive Gaskammern … Mit einer persönlichen Geschichte erreicht man die Kinder leichter“, murmelt der Sitznachbar und Organisator des „Marsch der Lebenden“ vor sich hin.

Ein Erbe ist natürlich auch der Staat Israel, der nicht nur symbolisch, sondern konkret in Gestalt des Ben-Gurion-Flughafens den Ausgangspunkt des aktuellen Comics bildet – von der Realität des Sicherheitschecks in die Realität der Vergangenheit. Auch Modans 2008 in Israel und 2010 in Deutschland erschienenes Debüt „Blutspuren“ kam in diesem Sommer plötzlich wieder in die hiesigen Medien: Eine junge muslimische Studentin hatte an der Essener Uni in eine Ausstellung eingegriffen und ein Poster mit einer Collage aus Panels dieses Comics zerstört – ausgerechnet die Abbildung einer israelischen Friedensdemonstration hatte ihren Unmut erregt. „Blutspuren“ ist Modans Auseinandersetzung mit der permanenten Bedrohung durch Selbstmordattentate sowie dem schleppenden Friedensprozess in ihrer Heimat. Der mit dem Eisner-Award ausgezeichnete Comic lässt von illegalen Putzfrauen über Mitarbeiter der Gerichtsmedizin bis hin zu Angehörigen von Opfern die unterschiedlichsten Stimmen zu Wort kommen und zeichnet so ein differenziertes Bild der israelischen Gesellschaft.

Warschau und Palästina

„Das Erbe“ knüpft an diese Form des Erzählens an und wirft einen Blick zurück auf die Vorgeschichte Israels, auf das Verhältnis israelischer Juden zu ihrer osteuropäischen Herkunft und auf die Rolle der Shoah in Israel. Auch wenn sich die Handlung bereits vom ersten am Flughafen angesiedelten Panel an aus Israel wegbewegt, spielt auch hier die Gegenwart des noch immer jungen Landes eine zentrale Rolle. Für die israelische Gesellschaft wie auch für die im Comic porträtierten Charaktere.

Bild aus Rutu Modans „Das Erbe“ (Carlsen)

Das reale „Erbe“, die Immobilie, rückt nach der Ankunft in Polen zunehmend in den Hintergrund. Die Großmutter Regina begibt sich heimlich auf die Suche nach ihrer Jugendliebe Roman Gorski, der damit konfrontiert wird, der Vater von Reginas kürzlich verstorbenem Sohn zu sein – und somit der Großvater von Mika. Diese lernt unterdessen auf der Suche nach der Immobilie den jungen Polen Tomasz Novak kennen, einen Comiczeichner und Stadtführer durch das jüdische Warschau. Sie alle sind auf der Suche, nach Spuren der Vergangenheit, verflossener und neuer Liebe sowie dem jüdischen Leben der Stadt. Vergangenheit und Gegenwart werden von Modan in den Panels zusammengeführt, (Erinnerungs-)Bilder von Warschau aus der Zeit vor dem Einmarsch der Deutschen schieben sich vor die Straßenzüge der Gegenwart. Die Großmutter wird eingeholt von ihrer eigenen Vergangenheit. Die Ausreise nach Palästina 1939 hatte ihr zwar das Leben gerettet, sie jedoch mit Selbstzweifeln ausgestattet, die immer noch wirksam sind – ihr persönliches „Erbe“.

Auf der Suche sind sie alle: nach Vergangenheit, nach Enteignetem, nach einer Versöhnung mit der eigenen Biografie. Plumpe Versöhnungsgesten sind jedoch nicht Modans Anliegen, vielmehr zeigt sie in immer neuen Anläufen in der manchmal etwas überfrachteten Story die ambivalenten Gefühle angesichts von Fragen um Vergangenheit, Vergebung und Versöhnung. Das Finale auf einem Warschauer Friedhof, der alle Protagonisten im Gedenken an die Toten wie Lebenden zusammenbringt, endet in einem Missverständnis: Mika verabschiedet sich von Roman Gorski, ohne in ihm ihren Großvater zu erkennen. Dennoch sitzen Großmutter und Enkelin in den letzten Panels ruhig im Flugzeug und wagen erstmals vorsichtige Blicke in Richtung Zukunft.

Dass der Pole Tomasz ein Comiczeichner ist, der die junge Israelin darüber aufklären muss, dass Comics nicht immer lustig sein müssen, ist ein ironischer Seitenhieb Modans auf die erst junge Comicszene Israels. Sie selbst hatte an deren Entstehung nicht geringen Anteil, bis heute ist sie eine der wichtigsten Protagonistinnen der Szene, die ihren Landsleuten zunächst einmal deutlich machen musste, dass Comics mehr sind als „Tim und Struppi“ und „Popeye“ – die einzigen Comicreihen, die bis vor 20 Jahren in Israel verlegt wurden.

Eine eigene Ästhetik

Doch gerade diese Abwesenheit einer Tradition, eines Erbes, bedeutete für die israelische Comicszene die Freiheit, eine völlig eigene Ästhetik zu entwickeln. Der von Rutu Modan 1995 mit ins Leben gerufene Comicverlag Actus Tragicus steht wohl stellvertretend für die israelische Szene: Als Kollektiv geführt, ästhetisch an den amerikanischen underground und die franko-belgische ligne claire erinnernd und doch völlig eigen, und, anders als in den meisten anderen Ländern, mit einem hohen Frauenanteil. Ohne es zu beabsichtigen, wurden die fünf Gründungsmitglieder von Actus, neben Modan waren dies Yirmi Pinkus, Batia Kolton, Mira Friedmann und Itzik Rennert, zu den Initiatoren der israelischen Comicszene, etablierten sich als Universitätsdozenten, wo sie die nachfolgenden Generationen beeinflussten. Diese Rolle schürte, vor allem nach dem Erfolg von „Blutspuren“, das Verlangen des westlichen Publikums nach Werken, die die Situation im Nahen Osten verstehbar machen, die klar aufzeigen, wer gut und wer böse ist. So einfach will es Actus Tragicus dem Publikum jedoch nicht machen, auf die Suche muss sich jeder, genau wie die Protagonisten in Modans Comics, selbst machen.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Das Erbe“, hier findet sich ein Interview mit Rutu Modan zu ihrem neuesten Werk „Tunnel“.

Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins. Zuletzt erschien von ihm die Textsammlung „Dahinter. Dazwischen. Daneben. Von kulturellen Außenseitern und Sonderlingen“.

Rutu Modan: „Das Erbe“. Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer. Carlsen Verlag, Hamburg 2013. 240 Seiten. 24,90 Euro