Der kanadische Drehbuch-, Roman- und Comicautor Shane Simmons kann von sich behaupten, zeichnerisch nicht besonders begabt zu sein. Dass dies seinem Comic „Das lange ungelernte Leben des Roland Gethers“ keinen Abbruch tut, verdankt er seinem Einfallsreichtum.
Die Geschichte nimmt ihren Anfang – und zwar am Anfang. Bei der Geburt von Roland Gethers im Jahr 1860 stirbt die Mutter, und der Vater muss die zwölf Kinder (allesamt Jungs) im walisischen Cardiff allein aufziehen, was ihm nicht immer gut (also: meistens schlecht) gelingt, aber die Hilflosigkeit des alleinerziehenden Vaters ist Anlass für herrlich absurde Szenen. So etwa, als er den zahnenden Roland dessen Geschwistern überlässt, die überlegen, ob „Bewusstlos-Schlagen“ eine diskutable Option sei, um das Schreien zu beenden. Irgendwie wird Roland groß und größer, heiratet, zieht erst in den Kolonialkrieg, dann in den Ersten Weltkrieg, sein Sohn in den Zweiten Weltkrieg. Wie das elende Leben halt so spielt.
Die große Welt hat er kennengelernt, im Kopf aber bleibt Roland kleingeistig. Manchmal entfahren ihm versehentlich tiefe Erkenntnisse, wenn er etwa in der Schule die glanzvolle Kolonialgeschichte Englands infrage stellt. Sterben aber wird er als engstirniger Bewohner eines Pflegeheimes.
Shane Simmons pflegt einen schwarzen Humor, den man sofort britisch nennen würde, wenn Simmons nicht Kanadier wäre. Groteske Dialoge wechseln sich mit tragischen Momenten und tiefkomischen Sequenzen, als Roland und seine Frau sich zum ersten Mal im Geschlechtsverkehr üben, aber keinen blassen Schimmer haben, was sie eigentlich tun sollen.Es wäre noch ein Understatement, diesen Comic als grafisch unauffällig, unspektakulär oder reduziert zu bezeichnen. Es ist fast schon übertrieben, der Gestaltung überhaupt grafische Qualitäten zuzugestehen, denn das Visuelle beschränkt sich auf 8×10 Miniatur-Panels pro Seite, auf denen Punkte agieren. „Longshot-Comics“ nennt Simmons dieses Verfahren, weil sie den Eindruck vermitteln sollen, dass wir die Figuren aus großer Distanz beobachten. Praktischerweise aber kompensiert es aber auch, dass Simmons nach eigener Aussage nicht zeichnen kann.
3.840 solcher Panels umfasst der Comic, der in Erzählung und Titel an die Tradition des Bildungsromans anknüpft. Simmons erzählt die gesamte Handlung in pointierten Dialogen, die mit dem knappen Platz in den kleinen Panels auskommen müssen – im sperrigen Deutsch noch schwieriger als im Englischen. So spricht Roland mit seinem todgeweihten Vater, der zusammen mit seinen anderen Söhnen in einem Stollen verschüttet ist. Der Sohn möchte ihm einen Ratschlag geben, wie er trotz Hunger überleben könne: „Ich habe da so Geschichten gelesen, in diesen Magazinen, über Expeditionen in die Arktis und sowas … Da waren Forscher, die waren in der Klemme, ohne Essen, und die haben … Ich meine, die mussten die essen, die … äh… dahingegangen waren.“ – „Mmm. Könnte ich nicht, mein Sohn. Ich weiß, was du sagen willst, aber es ist einfach unchristlich. Das ist was für Wilde. Außerdem versuche ich es schon seit Tagen, aber ich komme an keinen ran, so wie ich eingeklemmt bin.“ Urkomisch, entlarvend und oft tragisch.
Der Comic ist zuerst 1993 im Selbstverlag, ein Jahr später bei dem kalifornischen Indie-Verlag Slave Labor Graphics Edition als Auftakt einer dreibändigen Reihe erschienen, deren Folgebände 1997 und 2018 veröffentlicht wurde. Die Comics haben akademische Aufmerksamkeit gefunden, und auch der Weg nach Deutschland wurde schon 2000 geebnet, als der Augsburger Maro-Verlag den Titel in sein Programm aufnahm.
Avant hat nun den ersten, längst vergriffenen Band erneut aufgelegt, auf dem Cover ein Labyrinth, das klassischerweise als Symbol für die Wege des Lebens herhalten muss. Ein herrliches Formexperiment, auch äußerlich: Auf dem vorderen Buchdeckel wird der Inhalt angepriesen: „Inhalt: Leben – Tod – Abenteuer – Romantik – Intrigen – Gut, nicht so viele Intrigen – Konflikte – Lösungen – Noch mehr Konflikte – Kriege (drei) – Tausende von Darstellern.“ Bitte mehr davon.
Hier und hier gibt es weitere Kritiken zu „Das lange ungelernte Leben des Roland Gethers“.
Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.